RITUAL UND KUNST
Elisabeth von Samsonow (Künstlerin und Universitätsprofessorin für Philosophie und Historische Anthropologie der Kunst, Akademie der bildenden Künste Wien)
Für mich sind Rituale die großen magischen Handlungsanordnungen, die Metaphysik des Körpers. Die Kulturwissenschaft hat alles Mögliche zum Ritual erklärt – was sie gerne machen kann –, aber das Ritual ist in diesen grandiosen Verallgemeinerungen verschwunden. Ist Zähneputzen ein Ritual? Eher nicht. Der effizienzsteigernd durchgetaktete Alltag des modernen Menschen ist eher von konditionierenden Gewohnheiten durchzogen als von Ritualen. Der Raum des Rituals ist immer magisch, sofern er erschafft, ordnet, erkennt, eingreift in die Weltordnung. Zum Ritual gehört also immer ein Weltbild oder ein Bewusstseinstyp und auf jeden Fall die absolute Identifikation des Ritualisten mit der gesamten Welt. Der Ritualist handelt als Welt. Die Ritualkrise der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht nur eine Krise des zum Ritual gehörigen magischen Bewusstseinstyps gewesen, sondern markiert auch das Ende der hochgradig autonomisierenden Funktion des Rituals: Der Ritualist und die Ritualistin übertreffen natürlich locker die mächtigsten Politiker in ihren Wirkungsansprüchen, wodurch sie sich suspekt machen.
Kein Wunder, dass sich vor allem die Feministinnen der ersten Welle in den Siebzigerjahren auf Magie und Ritual als provokante Praxis konzentriert haben (und dazu – nebenher – intelligente Analysen ihrer „magischen“ Bewusstseinspolitik vorlegten). Rituale sind darüber hinaus Handlungsformen, die durch Wiederholung stabilisieren und stabilisiert werden (bis zum Verlust der ursprünglichen Intention), was natürlich die sogenannten Alltagsrituale als Kandidaten für das Thema empfiehlt, auch wenn diesen die Welt ordnende Dimension fehlt (sie ordnen nur den kleinen Menschen, der täglich seine Portion Zwangshandlung verrichtet). Ein Handkuss ist noch kein Ritual, sondern nur eine Habitusformel. Das aufrechte moderne Magieverbot macht es dem Ritual nicht leicht. Die Kunst ist auf jeden Fall die Ebene, die den Verlust des Rituals am ehesten auszugleichen imstande ist, oder sogar profitiert vom westlichen Ritualzerfall. Sie operiert nicht selten auf der liminalen Ebene der Ritualerfindung, wobei sie die Rituale oft auf Kosten ihrer konstitutiven Wiederholung herstellt (im Sinne der hochgradig geladenen „Einmalhandlung“). Die Diskussion zum Wesen der Performance hält sich nicht umsonst auf beim „Reenactment“ von wichtigen, die Performancegeschichte definierenden Performances. Ich erhoffe mir von der künstlerischen Aneignung der zerfallenden Ritualenergie und der daraus entstehenden und entstandenen Praxis eine gesellschaftliche Auswirkung auf die über Handlung und Haltung organisierbare Autonomisierung des Subjekts.
(Elisabeth Samsonow)