Rätselhafte Reisen
Francesco Clemente in der Albertina. Eine bildgewaltige Reise in verborgene Vorstellungen des Ichs. Von Sabine B. Vogel.
Im August 2019 übergab der Ex-Galerist Rafael Jablonka der Albertina rund 400 Werke aus seiner Sammlung als temporäre Leihgabe. Im Oktober 2020 zeigte die Albertina einige Höhepunkte daraus, jetzt folgt die Personale von Francesco Clemente (geb. 1952 in Neapel, lebt in New York), einem Sammlungsschwerpunkt Jablonkas.
Clemente gehörte Anfang der 1980er Jahre zu jenen jungen, italienischen Malern, die mit ihren frechen Bildern die Kunst revolutionierten. Ihre Werke waren strikt subjektiv, unbekümmert in Fragen des Stils und weitgehend frei von Bedeutung. Ihr Hauptthema war ihr Ego. So entstand zunächst die Bezeichnung Egonavigato (Reise ins Ich). Bald folgte das Label „Arte Cifra“: ´Kunst-Chiffren´ für ein neues Ich-Bewusstsein, um diesen gemalten Sehnsüchten und auch Widersprüchen einen Namen zu geben. Durchgesetzt hat sich letztendlich der Begriff Transavantguardia: eine ideologiebefreite Kunst jenseits der Avantgarden.
Was uns damals als freche Absage vorangegangener Ismen erschien, hat heute seine Wildheit verloren. Stattdessen sind Clementes Werke, das zeigt die Schau in der Albertina, von einer fast melancholischen, in ihrer emotionalen Intensität mitreißenden Poesie bestimmt. Es ist eine auf wenige Bildelemente verdichtete, zwar figurative, aber gänzlich enigmatische Bildsprache. Wir sehen großartige Bildfindungen voller rätselhafter Details, die man benennen, die man empfinden, die man aber nicht deuten kann.
Wunderbar die „Selbstporträts in weiss, rot und schwarz“ – „Grundfarben“, wie es Clemente nennt, die mit Licht, Schatten und Blut bzw. Leben verbunden sind. Warum die drei Augenpaare über seinem Kopf mit den leeren Augenhüllen schweben, bleibt genauso deutungsoffen wie wenige Schritte weiter die Segelschiffe, die auf kippeligen antiken Säulen gestrandet sind. In seiner „Tarots“-Serie (2008-2011) interpretiert Clemente auf 22 detailreichen Aquarellen und Gouachen die Arkana-Karten, d.h. die Trumpf- bzw. Hauptkarten des Wahrsagesets: der Gehängte, die Kraft, das Rad des Schicksals und andere. Mithilfe dieser Karten werden Fragen zu Lebensthemen und zur Zukunft gestellt – passend zu Clementes zentralem Thema einer Reise in verborgene Vorstellungen des Ichs. Manche dieser Reisen führen auch zu Verbindungen zwischen seinem Ich und der Kunstgeschichte, denn Clementes Thema ist nicht die Selbstfindung, sondern Entdeckungen – mit denen er uns auf eine bildgewaltige Reise mitnimmt.
Francesco Clemente, Albertina, 9. Juli – 30. Oktober 2022