Beim Betrachten des Films, der aus vier langgezogenen Einstellungen von Lesenden besteht, unterbrochen von kurzen Sequenzen, in denen Auszüge aus den von ihnen gewählten Büchern aufscheinen, hat man mitunter das Gefühl, in einen Spiegel zu starren. Dabei zeigt der Rhythmus, dem die einzelnen Darsteller beim Lesen, nochmaligen Lesen und Nachdenken folgen, eine starke, etwas unheimliche Ähnlichkeit mit dem Eigenen.
Die erste Leserin Clara McHale-Ribot ist gerade dabei, sich durch D. H. Lawrences Women in Love (Liebende Frauen) zu arbeiten, aber dessen wird sich das Publikum frühestens in der zehnten Minute bewusst, als sie ihre Haltung ändert und der Buchdeckel kurz von der Kamera erfasst wird. Und so geht es bei jeder der vier Einstellungen weiter, in denen, der Reihenfolge nach, die Autorin Rachel Kushner, der Soziologe Richard Hedbige und die Performance-Künstlerin Simone Forti auftreten.
Wenn man über READERS schreibt, ist man versucht, vor allem das hypnotisierende Gefühl, das beim Betrachten des Films entsteht, wiederzugeben. Dies könnte aber den falschen Eindruck erwecken, dass Benning, anstatt sich gekonnt in Zurückhaltung zu üben, keine Richtung angibt, und dass seine Kunst darin besteht, die Kamera einzuschalten und den Betrachtern die harte Arbeit zu überlassen. Richtiger wäre zu sagen, dass Benning die künstlerische Leistung anderer Menschen fördern und feiern möchte, ohne dabei seine eigene zu kompromittieren – ein Anliegen, auf das der Auftritt von führenden Denkenden und Kunstschaffenden im Film anspielt. Dieser Wunsch, mit dem gewöhnlichen, aufgeschlossenen Publikum in Verbindung zu treten, scheint auch eine Rolle gespielt zu haben, als der Regisseur vor einem Jahrzehnt von 16mm zum Digitalfilm wechselte.
Bennings eigene Kunst ist gerade in jenen Momenten von READERS am offensichtlichsten, wenn der Film zwischen verschiedenen Sichtweisen hin- und herspringt. In jedem kurzen Abschnitt nach einer Aufnahme eines Lesenden, nachdem man sich so lange dem Betrachten des Bildes mit der eigenen Geschwindigkeit hingegeben hat, wird man plötzlich gezwungen, das Lesen selbst zu übernehmen, von rechts nach links, von oben nach unten. Das, was man hier sieht, kann einen aus der Ruhe bringen, ist aber zugleich belebend und sogar ein wenig unterhaltsam, was sich als Non Sequitur, große Offenbarung oder Pointe beschreiben ließe.
Bennings vier Leser üben sich in einer Praxis, die mit jedem Tag seltener wird, nämlich Zeit mit sich selbst, ganz ohne jegliche elektronische Ablenkungen zu verbringen und zu reflektieren. Durch das Zelebrieren dieser Praxis entkräftigt Benning die Argumente jener, die gegen das slow cinema auftreten. Wie kann denn geduldiges Kontemplieren trivial sein, wenn es gerade dabei ist, auszu – sterben?
(Zitiert: Jackson Arn, Long, Hard Looks, 2018)
Christine KÖNIG | CHAPTER III: DAS BILD UND SEIN BUCH
DAS BILD UND SEIN BUCH: Zwei Formen der Erzählung, zwei Formen der Weltwahrnehmung. Während der Betrachter beim Bild meist mit einem Überfluss an Informationen überwältigt wird, lädt das Buch zur contemplatio ein. Das Zusammenspiel dieser beiden Dispositive ermöglicht die Verbindung zwischen Zeit und Raum. Das traditionelle Format wird auf neuartige Weise interdisziplinär verschränkt. Es geht aber nicht nur um Bücher, die Künstler und ihre Werke beeinflussen, es können auch Wörter sein, die buchstäblich ins Bild wandern. Joseph Kosuth hat beispielsweise einzelne Begriffe aus dem Roman „Korrektur“ von Thomas Bernhard in eine, dem Satzspiegel entsprechende, Lichtinstallation transformiert.
DAS BILD UND SEIN BUCH entfaltet somit ein Glasperlenspiel, das sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert. „Lesen heißt durch fremde Hand träumen,“ schrieb einst Fernando Pessoa. Man könnte die Formulierung auch umdrehen: In der Betrachtung von Kunst zu träumen, heißt durch fremde Hand lesen. (Thomas Miessgang, 2024)
CHAPTER III: James BENNING | READERS
24 Oct 2024 - 30 Nov 2024
Christine KÖNIG | CHAPTER III: DAS BILD UND SEIN BUCH
Schleifmühlgasse 1, 1040 Wien, Österreich