UNKATEGORISIERT

MAKING TRUTH

Lois Renner, Heliogabalus © Lois Renner

„Was ist also Wahrheit? […] Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“ (Friedrich Nietzsche) Etwas wahr zu machen respektive die Wahrheit zu sprechen ist heute nicht mehr ausschließlich den klassischen Wahrrednern – den Predigern, Philosophen, Wissenschaftlern und, wie man es sich zumindest wünschen würde, den Politikern und Staatsoberhäuptern – vorbehalten, sondern auch denjenigen, die andere, individuelle und subtilere, Formen gefunden haben, die Wahrheit auszudrücken: den Künstlerinnen und Künstlern. Ob sie sich nun in ihren Werken dezidiert in den Dienst der Wahrheitssuche stellen oder nicht: Die Entwicklung und der Ausdruck einer visuellen Formensprache können den essenzialistischen Charakter von Kunst und ihren – vielleicht sogar archaisch-philosophischen – Bedeutungsanspruch demonstrieren. Béatrice Dreux unterstreicht in ihrer Malerei, die sich von tagespolitischen und illustrativen Tendenzen deutlich distanziert, den abstrakten, zeitenübergreifenden Wert und das wahrende Potenzial von Kunst. Sie zeigt die Möglichkeit eines ästhetischen Korrektivs in einem zunehmend von schnelllebigen, konsumorientierten und geschäftigen Interessen geprägten Alltag. Bei der Deutung dessen, was wahr ist, kann Kunst schnell in den Wettstreit mit der Wissenschaft geraten oder stellt sich – etwa in Art-and-Science-Projekten – als erkenntnisträchtiges Unterfangen dar. Gerald Nestler/Sylvia Eckermann und Martin Walde greifen in ihren Arbeiten auf Forschungen und Visualisierungsmethoden der Wissenschaft zurück und machen sich in Wort und Bild das faktische Wissen einer Welt spielerisch zu eigen, die sich den Mitteln der Ratio verschrieben hat und die vielleicht lernen muss, viel mehr in Gewissheiten als in Wahrheiten zu denken. Erstere sind offen für visionäre Projekte, Letztere wollen eine dynamische Realität feststellen. Tomas Eller bedient sich in seiner Fotogravur-Serie „Trope“, die Bilder von Monden, Asteroiden und Kratern zeigt, naturwissenschaftlichen Verfahren, um die Grundkonstanten unseres Lebens – Raum, Zeit, Materie und Energie – zu thematisieren, und stellt Fragen grundsätzlicher Art: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Im Zuge der Moderne wurden die Zweifel an einer einzigen und allgemeingültigen Wahrheit, einem Master-Narrativ, immer größer; die Idee der Objektivität bröckelte zugunsten einer subjektiven Wahrheit. Dass Wahrheit auch ein Konstrukt und ein Akt der Aneignung ist, vermitteln etwa Kunstschaffende wie Ashley Hans Scheirl und Jakob Lena Knebl. Sie nivellieren in ihren multimedialen Arbeiten die Grenzen zwischen Kunst und Leben, lassen unterschiedliche Medien, Materialitäten und Disziplinen kollidieren und stellen ihr biologisches Geschlecht zur Debatte. Das Postulat individueller Gestaltungshoheit dient in diesem Fall auch der Rettung eines idiosynkratischen Wahrheitsbegriffs, da Identität Teil einer konstruktivistischen Weltsicht ist. Bernhard Cellas Projekt „Butch Heroes – Figuren der Queerness, für die Geschichte zurückerobert“ von Ria Brodell, findet das Heroische im Vergessenen: Brodell recherchierte für jedes ihrer 28 Porträts von außergewöhnlichen Menschen ein Leben aus historischen Berichten, Karten, Journalen, Gemälden, Zeichnungen und Fotografien. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass „Making“ so ähnlich klingt wie „Faking“ und dass sich im Taumel des Noch-nicht-Wahren das Wahre mit dem Unwahren vermischt. Zahlreiche Künstler und Künstlerinnen wie etwa Lisl Ponger, die sich mit Nationalismen und postkolonialer Theorie beschäftigt, setzen sich mit den Machbarkeitsfantasien der sich im Wahrheitsrausch befindlichen Individuen (oder auch einzelner zweifelhaft geführter Nationen) auseinander, die nur allzu leicht zu krankhaften Auswüchsen ideologischer Vorstellungen werden und zu einem grenzenlosen Machtmissbrauch führen können. In Zeiten, da Fake News Hochkonjunktur haben, Politiker das Blaue vom Himmel lügen und Nachrichten zu Waffen instrumentalisiert werden, wünschen sich viele Menschen wieder eine – am besten alleinige – objektive Instanz zurück, die die Wahrheit spricht. Kunstaktivistische Gruppierungen wie etwa das Zentrum für politische Schönheit (Berlin) und Forensic Architecture (London), die beim Line-Up der Vienna Art Week am 22. November dabei sind, machen auf diese gefährlichen gesellschaftlichen Entwicklungen aufmerksam. Mit ihren Projekten stellen sie den weltweit um sich schlagenden Rechtspopulismus sowie die Übertretung von Menschenrechten radikal an den Pranger. Anna Jermolaewa, die sich als Realistin „no matter what and in which medium“ versteht, aber auch John und Joy Gerrard befassen sich ebenfalls mit aktuellen und historischen Situationen, die die Verfassung der Gesellschaft betreffen. John Gerrard thematisiert in seinen gebauten Bewegtbildern ökologische Fragen wie die Verschmutzung des Wassers und der Luft, seine Schwester Joy Gerrard zeigt in ebenso sinnlichen wie politischen Bildern in Tinte die Reaktionen einer demonstrierenden Bevölkerung auf bedenkliche weltpolitische Entwicklungen wie den Brexit. Damit stellen sich diese Kunstschaffenden in eine Genealogie der kritischen Haltung und eine Tradition, die auch durch Michel Foucault mit seinen Ausführungen über das Konzept der Parrhesia in Reaktion auf das Free Speech Movement in Berkeley Ende der 19060er-Jahren begründet wurde. Es kulminierte in der Frage, wer das Recht, die Pflicht und den Mut habe, die Wahrheit zu sagen. „Decoding the Whole Truth“ nennt Karin Ferrari ihr ambitioniertes Projekt, das mittels affirmativer künstlerischer Praxis die Wahrheit aus dem Korsett der Verschleierung schält. Sie hinterfragt in experimentellen Dokufiktionen die Inszenierungsstrategien der Medien- und Konsumkultur zwischen Fake News, Verschwörungstheorie und Warenfetischismus. „Um eine Wahrheit zu finden, schaffe ich eine Unwahrheit, denn Kunst ist die Lüge, die die Wahrheit sagt“, weiß auch Lois Renner. Kunst ist immer auch Weltdeutung, die von eindimensionalen Tatsachenberichten und einer verkürzen Wirklichkeitsdarstellung abweicht. Claudia Märzendorfer erzählt in ihren Arbeiten, die das Ephemere inszenieren, die schmelzen und verschwinden, was die Welt mit ihr macht. Der Fotograf Klaus Pichler hat sich last but not least mit alternativen Glaubenssystemen beschäftigt und für Recherchenzwecke über zwei Jahre hinweg in esoterische Zirkel eingeschleust. In der daraus resultierenden fotografischen Serie „This will change your life forever“ setzt er sich mit vermeintlich wahren Heilsversprechen auseinander und macht auf die Gefahren aufmerksam, die mit hohlen, parareligiösen Kompensationsangeboten einhergehen: Fernheilung, Aurasprays und Einhornessenzen ventilieren vor allem eines – eine Mischung aus Leichtgläubigkeit, Humbug und Betrug. Eine Stadt verwandelt sich in eine Ausstellung: Ganz Wien ist Kunst! Im Ausstellungsparcours MAKING TRUTH der Vienna Art Week verbindet sich das zeitliche und räumliche Framing der Kunstplattform mit den künstlerischen Ressourcen der Stadt. Eine Ausstellung mit veränderten Vorzeichen: neue Räume, neue Formate für die Kunst! Die Vienna Art Week will mit den Open Studio Days das bestehende institutionelle, wissenschaftliche und kommerzielle Netzwerk des Kunstbetriebs erweitern und durch einen Blick in die Ateliers der Künstler und Künstlerinnen ergänzen und öffnen. Ein wesentlicher Aspekt dieses Projektes ist die freie Zugänglichkeit zu Kunst und Künstlerschaft. Dabei gewähren die Produktionsstätten nicht nur Blicke hinter die Kulissen, sondern dienen mit ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten auch als Orte der Repräsentation. Einen solchen thematisiert der Künstler Lois Renner in seinen Arbeiten, die Fotografie und Malerei miteinander verbinden, schon seit Jahrzehnten exemplarisch. Die Vienna Art Week versteht sich auch als Kunst-Allianz, ganz im Sinne Lisl Pongers. Sie meinte einmal, dass Making Truth kein Endpunkt sei, sondern ein vielstimmiger dialektischer Prozess. Robert Punkenhofer und Angela Stief   Highlight der Vienna Art Week ist der MAKING TRUTH Exhibition Parcours: 14 über die Stadt verteilte ausgewählte Ateliers werden zu den Räumen einer Ausstellung verbunden. Mit den dort schaffenden Künstlerinnen und Künstlern finden die Exhibition Parcours Talks statt, deren Zeiten so abgestimmt sind, dass sie sich zu einem Talk Rundgang aneinanderreihen lassen. Exhibition Parcours Talks: SA, 16 NOV und SO, 17 NOV 2019   Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler: Bernhard Cella, Beatrice Dreux, Tomas Eller, Karin Ferrari, John und Joy Gerrard, Anna Jermolaewa, Jakob Lena Knebl, Claudia Märzendorfer, Gerald Nestler/Sylvia Eckermann, Klaus Pichler, Lisl Ponger, Lois Renner, Ashley Hans Scheirl, Martin Walde