VIENNA ART WEEK 2025

LEARNING SYSTEMS

Die 21. VIENNA ART WEEK steht ganz im Zeichen des Lernens – nicht als bloßes Aneignen von Wissen, sondern als dynamischer Prozess des Erkennens, Verlernens und Neudenkens. Das diesjährige Motto lädt dazu ein, die uns umgebenden Wissenssysteme von Tradition bis Technologie zu hinterfragen und neue Perspektiven zu erkunden.

Von Işın Önol und Robert Punkenhofer

 

Jeden November verwandelt die VIENNA ART WEEK die Stadt Wien in ein pulsierendes Zentrum künstlerischen Austauschs, in dem sich Museen, Künstler:innen, Theoretiker:innen, Galerien und ein breites Publikum gemeinsam mit einem Thema auseinandersetzen. Im Jahr 2025 fragen wir unter dem Motto Learning Systems, wie Wissen in der Geschichtsschreibung, der Natur, der Technologie und der Gesellschaft generiert, weitergegeben und adaptiert wird.

In einer Zeit, in der intelligente Maschinen von menschlichem Verhalten lernen, Gemeinschaften alternative Wissensnetzwerke aufbauen und historische Narrative laufend umgeschrieben werden, lädt das diesjährige Festival Künstler:innen, Kunsteinrichtungen und das Kunstpublikum dazu ein, über Systeme zu reflektieren, die unser Weltverständnis prägen. Von ökologischen Kreisläufen über künstliche Intelligenz bis hin zu mündlichen Überlieferungen und digitalen Archiven … Learning Systems untersucht, wie Systeme lernen und wie wir wiederum – sichtbar oder unsichtbar, dominierend oder dominiert, menschlich oder nicht-menschlich – von ihnen lernen.

Das Thema sprengt den Rahmen des Unterrichtsraums oder Labors. Es ergibt sich aus den Strukturen, die unser Handeln lenken, aus dem Material, das wir überliefert bekommen, aus unseren Ritualen und den Werkzeugen, mit denen wir die Realität verarbeiten. Das Lernen als solches ist niemals neutral, sondern stets von Macht, Teilhabe und Ideologie bestimmt und verändert sich entsprechend der Entwicklung oder dem Zusammenbruch des jeweiligen Systems. Die diesjährige Artweek geht dieser Dynamik auf den Grund. Sie würdigt Erkenntnis jeder Art, hinterfragt aber auch, wer Zugang zu Wissen hat, wer es kontrolliert und wie Wissen bewahrt oder ausgelöscht wird.

 

Lernen als systemimmanenter Prozess

 

Für Karen Barad ist Lernen ein aktiver, partizipatorischer, tief in unserem jeweiligen System verwurzelter Prozess. Wissen entsteht nicht durch das Beobachten der Welt aus der Distanz, sondern durch die Erkenntnis, dass wir ein inhärenter Bestandteil der Welt sind und die Vorgänge auf der Welt ebenso prägen, wie wir von ihnen geprägt werden. Wissen ist demnach nicht unveränderlich, sondern relational, adaptiv und untrennbar mit den gesellschaftlichen, ökologischen und technologischen Systemen verbunden, in die wir verstrickt sind.

Bruno Latour hinterfragt starre, universelle Rahmenwerke und kritisiert die Dominanz singulärer Wahrheitssysteme, etwa jene des traditionellen „Produktionssystems“. Diesen stellt er Praktiken des „Erzeugens“ entgegen – sprich: dynamische, miteinander verbundene Prozesse des Generierens und Übertragens von Wissen. Demzufolge ist das Lernen kein Abrufen endgültiger Wahrheiten, sondern die aktive Mitgestaltung von Systemen des Austauschs, des Verhandelns und der Anpassung.

Im Laufe der Geschichte haben Gesellschaften verschiedene Systeme des Wissenstransfers entwickelt – von der mündlichen Überlieferung über die Lehre und wissenschaftliche Kodifizierung bis hin zum digitalen Lernen. Michel Foucaults Episteme-Konzept verdeutlicht, dass Wissen nicht bloß angehäuft wird, sondern von den Macht- und Diskurssystemen geprägt ist, die bestimmen, was zu einem Zeitpunkt als legitim gilt. Donna Haraway wiederum stellt traditionellen Lernsystemen das Konzept des situierten Wissens entgegen, demzufolge das Lernen von der Perspektive, dem Zugang und der gelebten Erfahrung geprägt ist.

In der Natur ist das Lernen ein überlebenssichernder Anpassungsprozess: Wälder kommunizieren durch unterirdische Pilzgeflechte und geben Nährstoffe und Warnungen weiter; Tiere entwickeln komplexe Strategien kooperativen Verhaltens zur Problemlösung. Wie können wir also von den in der Natur vorkommenden Systemen der Resilienz und Wechselbeziehung lernen? Schließlich war das gemeinschaftliche Wissen menschlicher Gesellschaften, das über Generationen durch Storytelling, Handwerk und Rituale angehäuft wurde, lange Zeit eine Quelle für Lernmodelle, die Alternativen zur institutionalisierten Bildung darstellen.

Doch nicht alle Lernsysteme sind befreiend. Es hat immer wieder Systeme gegeben, die darauf ausgelegt waren, den Zugang zu Wissen einzuschränken und Wohlverhalten zu erzwingen – man denke an die koloniale Auslöschung indigenen Wissens oder an die starren Hierarchien der akademischen und der Kunstwelt. Lernen ist also keineswegs ein reines Anhäufen von Wissen, sondern auch ein fortlaufender Prozess des Verlernens, des Hinterfragens, des Auflehnens gegen bestehende, dominante Systeme.

 

Kunst als System, Kunstwelt als Lernstruktur

 

Kunst kann als Lernsystem, als Akt des Erforschens, Experimentierens und Transformierens verstanden werden. Manche Künstler:innen schaffen in sich geschlossene Systeme und untersuchen mittels algorithmischer Strukturen, regelbasierter Methoden oder Dauerperformances die Mechanismen des Lernens. Andere betrachten die Kunstwelt als System und legen deren Macht-, Validierungs- und Ausschlussmechanismen bloß.

Künstler:innen wie Hito Steyerl, Hans Haacke und Trevor Paglen setzen sich kritisch mit der Infrastruktur der Wissensproduktion auseinander und hinterfragen Macht-, Sichtbarkeits- und Kontrollmechanismen in kulturellen und technologischen Systemen. Ihre Praktiken spiegeln sich in den Themen von Learning Systems wider und untersuchen, wie Wissen generiert, gefiltert und vermittelt wird.

Die Kunstwelt selbst ist ein System der Validierung, der Finanzierung und der institutionalisierten Macht. Sie bestimmt, welche Stimmen Gehör finden und welche marginalisiert werden. Wie lernen Künstler:innen und Institutionen von ihren überkommenen Rahmenstrukturen – und wie verlernen sie sie? Learning Systems lädt Museen, Galerien und freie Kunsträume ein, sich mit diesen Strukturen auseinanderzusetzen und über ihre eigene Rolle bei der Gestaltung des künstlerischen Wissens und Diskurses nachzudenken!

 

Die politischen Dimensionen des algorithmischen Lernens

 

Um dem globalen Trend zu maschinellem Lernen und zu KI-gesteuerten Systemen Rechnung zu tragen, setzt sich die VIENNA ART WEEK auch mit der Politik des algorithmischen Lernens auseinander. Denn wenngleich KI alle Bereiche von der Medizin bis zur Kunst erfasst hat, so ist sie doch kein neutrales Werkzeug, weil sie von verzerrten Datensätzen lernt und damit historische Ungleichheiten perpetuiert und bestehende Machtstrukturen stärkt.

Ganz abgesehen von ihrem technischen Potenzial spiegeln diese Computersysteme die Prioritäten derjenigen wider, die sie gestalten und kontrollieren, was wiederum dringende Fragen der Handlungsmacht, Ethik und Verantwortlichkeit aufwirft. Künstler:innen wie Cécile B. Evans setzen sich mit den emotionalen und politischen Dimensionen der Automatisierung auseinander und untersuchen, wie Maschinen menschliches Verhalten interpretieren. Die Agentur Forensic Architecture nutzt maschinelles Lernen zu Recherchezwecken und deckt mit digitaler Technik systemische Ungerechtigkeit auf. Simon Denny setzt sich kritisch mit dem Einfluss unternehmerischer und technologischer Infrastruktur auseinander und legt dar, wie Wissensgesellschaften von Algorithmen beeinflusst werden. Diese Ansätze zeigen, dass maschinelle Intelligenz nicht als autonome Macht agiert, sondern Teil größerer soziopolitischer Systeme ist, die beeinflussen, was wir wahrnehmen, wissen und erinnern.

Indem die Artweek künstliche Intelligenz in den größeren Kontext lernender Systeme stellt, widersetzt sie sich dem technologischen Determinismus und macht deutlich, dass Intelligenz keineswegs auf Maschinen beschränkt ist. Vielmehr manifestiert sich das Lernen auch in der Natur, in Gemeinschaften und in gestaltgewordener Erfahrung. Die Frage ist, was wir von diesen alternativen Modellen lernen können.

 

Das Lernen neu denken: alternative und gemeinschaftliche Modelle 

 

Während Institutionen eine zentrale Rolle bei der Bewahrung von Wissen spielen, finden sich abseits institutionalisierter Strukturen oftmals radikalere Ansätze des Lernens. So haben Graswurzelbewegungen, Aktionsnetzwerke und experimentelle Schulen längst alternative, gemeinschaftsorientierte Konzepte entwickelt und stellen der Erziehung „von oben“ partizipative, dekoloniale und nicht-hierarchische Ansätze entgegen.

Die Kunst hat sich immer wieder mit diesen alternativen Lernstrukturen auseinandergesetzt und dominante Systeme der Wissensproduktion kritisch hinterfragt. Tania Bruguera etwa denkt Bildung durch Akte des kollektiven Verlernens neu; Cecilia Vicuña webt indigene mündliche Überlieferungen in ihre dichterische und künstlerische Praxis ein; und Amor Muñoz verbindet Handwerk und Technik zu neuen Formen des Austauschs. Ihre Arbeiten stehen exemplarisch für alternative Ansätze des Generierens und Teilens von Wissen.

Learning Systems greift solche Ansätze auf und lädt das Publikum ein, sich mit Wissen auseinanderzusetzen, Lernprozesse neu zu denken, überlieferte Strukturen zu hinterfragen und sich für verschiedene Formen von Intelligenz zu öffnen.

 

Einladung zum Erforschen, Hinterfragen und Mitmachen

 

Learning Systems wird in Wiener Museen, Galerien und freien Kunsträumen durch Ausstellungen, Performances, Workshops und Talks erlebbar. Die diesjährige Kunstwoche ist damit nicht bloß ein theoretischer Themenschwerpunkt, sondern lädt zur aktiven Auseinandersetzung mit der Materie ein – sei es durch partizipative Kunstwerke, ortsspezifische Interventionen oder experimentelle Lernformate.

In Zeiten des rasanten Wandels fragen wir: Was lässt sich von der Vergangenheit lernen? Welche Systeme gehören neu gedacht? Wie kann Kunst uns helfen, gemeinsam neue Wege des Denkens, Teilens und Wachsens zu beschreiten?

Alle Künstler:innen, Institutionen und Kunstliebhaber:innen sind herzlich eingeladen, sich unserer kollektiven Erkundung durch Kunst, Dialog und die vielen uns verbindenden Systeme anzuschließen!