INCITING PASSION
Das Motto der VIENNA ART WEEK 2023 widmet sich der Leidenschaft in all ihren Facetten. Von Robert Punkenhofer, Julia Hartmann & Theresia Nickl.
Von Robert Punkenhofer, Julia Hartmann & Theresia Nickl
In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt? Leidenschaft kann eine treibende Kraft sein, die Menschen inspiriert und motiviert, ihre Ziele und Wünsche mit einem radikalen Maß an Engagement und Hingabe zu verfolgen. Dieses starke Gefühl der Begeisterung oder Aufregung in jemandem oder etwas zu entfachen, kann vergnüglich und erheiternd sein, aber auch potenziell zerstörerisch und gefährlich – im Wort Leidenschaft steckt schließlich auch das Wort ‚Leiden‘. Mit dem diesjährigen Thema „Inciting Passion“ will die VIENNA ART WEEK diese Ambiguität in all ihren Facetten einfangen und die Gefühlslage unserer Zeit vom privaten bis zum öffentlichen Raum widerspiegeln.
Schon Platon glaubte, dass der Mensch eine rationale und eine irrationale Seele habe: Die erste sei mit Vernunft und Logik verbunden, die zweite hingegen von Begierde und Körperempfindungen angetrieben. In diesem Sinne schlug der antike griechische Philosoph vor, alle Künstler aus der pólis – sprich: von allen politischen Entscheidungen – auszuschließen, da sie zu unkontrollierbar, zu emotional und zu leidenschaftsgetrieben seien. Künstler*innen sind zweifellos Seismograph*innen ihrer Zeit und rufen mit ihren Werken eine emotionale Reaktion bei den Betrachter*innen hervor – sei es durch überwältigende Ästhetik oder durch aufwühlende Motive, die von romantischer Leidenschaft bis hin zum Nationalismus reichen. Ausdrücke des Mitgefühls, der Fürsorge und der Hingabe werden bereits seit Jahrtausenden geäußert. Angeblich findet sich der erste Liebesbrief im Buch Salomo des Alten Testaments, einer Reihe von Gedichten, die als Dialog zwischen einer jungen Frau und ihrem Geliebten gestaltet sind. Die diesjährige VIENNA ART WEEK will jedoch die Kraft und Komplexität von Gefühlen jenseits heteronormativer sexueller Identitäten und konservativer Vorstellungen von Liebe, Sex, Romantik, Erotik, Lust und Beziehungen erkunden. In diesem Sinne hinterfragt Şeyda Kurt in ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe Politisch Ist (2021) die Vorstellung, dass Liebe eine private, individuelle Angelegenheit sei. Romantische Liebesbeziehungen, so die Autorin, seien häufig Räume für Machtmissbrauch, da sie im Bereich des Privaten stattfänden. Für Kurt sind Beziehungen politisch und wir brauchen daher strengere Gesetze und Vorschriften, die den vulnerableren Part einer Beziehung vor toxischem Machtmissbrauch und konservativer Auslegung der Geschlechterrollen schützen.
In ähnlicher Weise propagiert die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch The End of Love. A Sociology of Negative Relations (2018) „das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ – ein frühes Rechtskonzept aus dem mittleren 19. Jahrhundert, das die individuelle Wahl der sexuellen Freiheit und Sexualität garantiert. Dennoch werden gleichgeschlechtliche Paare und nicht-konforme sexuelle Identitäten in Gesellschaft und Politik immer noch nicht gleichberechtigt behandelt – ein Machtspiel, das die Künstlerin Nan Goldin seit den 1980er-Jahren dokumentiert. Die Fotoserie The Ballad of Sexual Dependency, zum Beispiel, besteht aus über hundert Schnappschüssen von Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen und Frauen und sich selbst, die sich in Schlafzimmern, Bars, Pensionen, Bordellen usw. abspielen. Wir erhalten einen intimen Einblick in die privaten Abgründe menschlicher Beziehungen zu einer Zeit, in der die HIV-/AIDS-Pandemie verheerende Folgen hatte. Der Künstler Félix González-Torres gedenkt in seinen Fotografien von leeren Betten in ähnlicher Weise der am Virus Verstorbenen.
Die Künstlerin und Aktivistin Zanele Muholi hält in ihren Bildern intensive Momente von Liebe und Intimität fest, die jedoch auch auf traumatische und gewalttätige Ereignisse anspielen, denen die südafrikanische LGBTQIA+-Gemeinschaft ausgesetzt ist. Muholis Fotografien sind Zeugnisse einer Gemeinschaft von Menschen, die trotz Unterdrückung und Diskriminierung und unter Lebensgefahr ihre Leidenschaft authentisch leben. Tracey Emin hingegen erforscht in ihren autobiografischen Kunstwerken private Akte der Leidenschaft. In den 1990er-Jahren machte sie Schlagzeilen mit Werken wie Everyone I Have Ever Slept With 1963–1995, einem Zelt, in dem die Namen aller Personen dokumentiert waren, mit denen die Künstlerin jemals das Bett geteilt hatte; in jüngerer Zeit verarbeitet sie ihren Kampf gegen den Krebs in verstörenden, freizügigen Gemälden, die laut Emin „Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Angst und Tod – alles, was wir alle durchleben müssen“ zum Ausdruck bringen. Diese kathartische Kraft zeigt sich auch in Louise Bourgeois’ künstlerischer Praxis, die stark von traumatischen, psychologischen Kindheitserlebnissen beeinflusst wurde.
In der heutigen Zeit stellt ein hedonistischer Lebensstil Vergnügen und Glück über alle anderen Aspekte des Lebens. Exzess und Selbstverliebtheit werden zunehmend zu Mitteln der Flucht und des Selbstschutzes. Infolgedessen hat sich auch die Art, wie wir Partner*innen suchen, massiv gewandelt – von leidenschaftlich inszenierten Liebessonetten hin zu gefühllosen Dating-Apps – ein Trend, der zur Kommodifizierung des Kennenlernens und von Beziehungen geführt hat. Der Kulturtheoretiker Byung-Chul Han hat dies als „emotionalen Kapitalismus“ bezeichnet, bei dem Gefühle von den Marktkräften vereinnahmt werden, wodurch der schnelle Austausch von Leidenschaft Beziehungen ausgehöhlt und zu egoistischen oder narzisstischen Verhaltensweisen geführt hat. Eine zunehmend entfremdete und individualistische Gesellschaft und ein immer geringeres Maß an Interaktion schüren den Wunsch nach der emotionalen Intelligenz von Robotern und Chatbots, die „echte menschliche Intimität“ durch künstlich erzeugte Leidenschaft für immer ersetzen könnte. Das Unternehmen Replika AI beispielsweise bietet bereits den „perfekten“ KI-Partner an, der „immer bereit ist, zu chatten, wenn man eine*n einfühlsame*n Freund*in braucht“.
Was den öffentlichen Bereich betrifft, so haben sowohl Religion als auch Politik seit Jahrhunderten Leidenschaften geschürt. In der gesamten (Kunst-)Geschichte finden wir eine enge Wechselbeziehung, die in ihrer extremen Form in Sekten, der Ekstase oder Mystik gipfelt. In seinen Untersuchungen zur transzendentalen Erfahrung zeigt Jeremy Shaw Organisationen, die eine extreme Hingabe oder Verehrung gegenüber einer bestimmten Person, Idee oder einem Objekt an den Tag legen. In seinen Film- und Fotoserien sehen wir Gruppen von Menschen, die sich auf einen ekstatischen Akt einlassen, der durch den kollektiven Ausdruck starker Gefühle Erleichterung verschafft. Kunstwerke, die sich mit dem religiösen Thema der Passion auseinandersetzen, sind meist höchst umstritten, wie Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater, in dem er ein für das Mittelalter typisches Leidensszenario inszeniert – ein blutiges Reenactment körperlicher Transzendenz und orgiastischer Erleichterung. Im Gegensatz dazu thematisiert Bill Violas Mehrkanal-Filmarbeit The Passions die Spiritualität in einem säkularen Zeitalter, indem er Renaissance-Gemälde nur durch Gesichtsausdrücke neu inszeniert. Das Ergebnis ist ein ruhiger und doch fesselnder Ausdruck religiöser Hingabe.
Schließlich beschäftigt sich das diesjährige Thema der VIENNA ART WEEK auch mit jenen Emotionen, die Nationalismen, Revolutionen und Kriege hervorrufen. Nicht erst seit Donald Trump wissen wir, dass „inciting passion“ zu einer gefährlichen Gruppendynamik führen kann, die eine bestimmte Art von Zusammengehörigkeit und nationaler Identität schürt und in der Stürmung von Parlamenten gipfeln kann. Mit Werken wie POINT & SHOOT, a mourning thought (though I am more enraged than in mourning), deckt die Künstlerin Martha Rosler dieses Phänomen auf, bei dem eine Person oder Gruppe die leidenschaftliche Loyalität ihrer Anhänger instrumentalisiert, um sich zu ihrem persönlichen Vorteil über alle Regeln und Ordnungen hinwegzusetzen.
Um schließlich zum Anfang zurückzukommen: Platons Idee von den leidenschaftlichen Künstler*innen, die aus der politischen Sphäre ausgeschlossen werden sollen, bekommt eine ganz neue und sehr aktuelle Bedeutung, wenn wir uns ansehen, was in totalitären Regimen wie Iran, Russland, Kuba, der Türkei oder China geschieht. Dort werden Künstler*innen, die ihre Kritik an politischer Unterdrückung äußern, sehr oft verfolgt oder direkt aus ihrer pólis vertrieben, wie die iranische Künstlerin Shirin Neshat, das russische feministische Kollektiv Pussy Riot oder die kubanischen Künstler*innen Tania Bruguera und Hamlet Lavastida.
Alles in allem hinterfragt die diesjährige VIENNA ART WEEK die vielfältigen Aspekte unserer rationalen und irrationalen Seelen. In der Liebe und im Krieg sollte eben doch nicht alles erlaubt sein …