House of Losing Control. Ein Rückblick
Krisenzeiten stimmen nostalgisch. Man sehnt sich zurück nach der guten alten Zeit „vor der Krise“. Dem wohlvertrauten, wohl geordneten Status quo ante. Keine Unwägbarkeiten, kein „Auf-Sicht-Fahren“-Müssen. Stattdessen: feste Routinen, Planungssicherheiten, verlässliche Sinn- und Erwartungshorizonte, mit einem Wort: Kontrolle. Die Coronakrise bildet da freilich keine Ausnahme. Seit annähernd zwei Jahren warten wir hoffnungsvoll auf den Tag, an dem wir sagen können: Wir sind wieder Herr der Lage. Wir haben die Dinge wieder im Griff. Aber hatten wir das je – die Dinge im Griff? Ist unser Glaube (unser Wahn?), die Dinge kontrollieren zu können, nicht ein Grund, weshalb sie sich seit einiger Zeit (und nicht erst seit 2020) immer bedrohlicher gegen uns kehren?
„Losing control“ lautete das Motto der diesjährigen Vienna Art Week. Ein Motto, das angesichts von Pandemie und Klimakrise viel Raum für Assoziationen und produktive Missverständnisse bot: War es eine Forderung? Eine Mahnung? Ein Eingeständnis? Ein Versprechen gar? So richtig wussten wir das anfangs natürlich auch nicht. Für uns war es zunächst einmal der Name für ein Experiment. Anders als 2020 hatten wir dieses Jahr wieder die Möglichkeit, dem Thema der Vienna Art Week eine eigene – physische – Ausstellung zu widmen. Unsere Vision: ein House of Losing Control. Als Ausstellungsfläche war uns ein Gelände im 20. Bezirk zwischen Nordwestbahnhof und Augarten zur Verfügung gestellt worden, ein weitläufiges Areal mit Werkhallen (ehemals Honda Stahl), einem Autosalon und einem baufälligen Zinshaus etc., ein Ort, der, wie es hieß, perfekt zu unserem Motto passen sollte: Das Zinshaus war wohl schon mehrfach in seiner Geschichte ein „Schauplatz von Rausch und Kontrollverlust“ gewesen. Neben einem (ziemlich düsteren) Club im Keller hatte es auch mal ein Bordell beherbergt. Kurzum: Der Ort war gewiss nicht leicht zu bespielen, hatte aber Potential. Nach drei intensiven Monaten war es dann soweit: Aus dem muffigen, abrissreifen Gebäudekomplex war das Modell eines multifunktionalen Kunstorts mit Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen, Café, Kultur- und Nachbarschaftstreff geworden. Die Ausstellung umfasste ein breites Spektrum unterschiedlicher künstlerischer Positionen, darunter auch Größen wie Cindy Sherman, Bruce Nauman, Santiago Sierra. Internationale wie lokale Künstler:innen waren dabei, einige etabliert, andere noch am Beginn ihrer Karriere. Eingebettet war die Show in ein umfangreiches Rahmenprogramm aus Führungen, Performances und diskursiven Formaten.
Wie nähert man sich einer solchen Ausstellung in der Rückschau? Wie führt man retrospektiv durch ein House of Losing Control? Dem Motto entsprechend: mäandernd. Da wäre zum Beispiel – als möglicher Einstieg – eine kleine Fotografie von Cindy Sherman, das auf Seide bedruckte Porträt eines koboldhaften Wesens mit toten Augen und weit aufgerissenem Mund. Die Arbeit war etwas abseitig in einer kleinen Kammer in einer der Werkhallen installiert, ein Set-up, das dazu einlud, sich ganz der Sogkraft dieses eigentümlichen Porträts hinzugeben.
Shermans Arbeit steht beispielhaft für einen zentralen thematischen Strang im House of Losing Control: Kontrollverlust als Chiffre für die Auflösung des Selbst. Ein – man ahnt es – paradoxes Phänomen: Sich aufzulösen, die Grenzen des eigenen Ichs zu überschreiten, kann eine Befreiung sein; es kann (wie bei Sherman) ebenso aber auch den unwiderruflichen Verlust des Ichs, die völlige Preisgabe von Autonomie und Selbstkontrolle bedeuten. Unweit von Cindy Shermans „O.T.“ kam diese Ambivalenz noch deutlicher zur Geltung, in einer Skulptur von Erwin Wurm aus dessen Serie „Psycho“. Wir sehen das Bild einer rücklings am Boden liegenden zusammengekrümmten menschlichen Gestalt. Sie trägt eine Art Zwangsjacke, die beinahe ihren gesamten Körper umspannt. Ob sie sich aus dem Textil zu befreien versucht oder, im Gegenteil, sich lustvoll darin eingräbt, ist nicht eindeutig auszumachen. Wir wissen nicht: Ist der Anblick dieses bizarren Riesen-Babys anrührend oder schlicht verstörend? Oder beides?
Noch diffuser und gefährlicher wird es, wenn man sich auf das Terrain von Lust und Sexualität begibt. Beredtes Zeugnis – buchstäblich – legte davon im House of Losing Control u.a. eine Videoarbeit der mexikanischen Künstlerin Larissa Escobedo ab: Zu sehen ist ein feucht glänzendes Lippenpaar in Großaufnahme, das uns lustvoll schmatzend über die sexuellen Vorlieben und Eskapaden seiner Inhaberin (der Künstlerin?) aufklärt. Eine ebenso betörende wie befremdende Begegnung. Einen etwas launigeren Kommentar zu den Verstrickungen von Lust und Kontrolle formulierten Xenia Lesniewski und Norman Hildebrandt mit ihrer ortsspezifischen (in den ehemaligen Bordellräumlichkeiten im Zinshaus installierten) Arbeit „I Got 5 On It“, ein Dildo-Kabinett, das zur Erkundung der verblüffend reichen Farb-, Formen- und Größenvielfalt des Sexartikels einlud.
Abseits dieser eher intimen, auf die Seite des Subjektiven fokussierenden Auseinandersetzungen mit dem Kontrollverlust spielte im House of Losing Control aber noch eine andere Facette des Themas eine Rolle: Kontrollverlust als Deutungsmuster für die Krisen, die derzeit unser Leben prägen. Das Themenspektrum reichte hier von dem schwierigen Umgang mit traumatischen Vergangenheiten (Ramesch Daha, Isidora Krstic) über Fragen kultureller und politischer Sichtbarkeit (bzw. Unsichtbarmachung: Jyoti Mistry) bis zu hin zu der – wohl drängendsten Problematik unserer Zeit – der Klima- und Umweltkrise. Besonders eindringlich und berührend in diesem Kontext: der Animationsfilm „Fragile“ des dänischen Künstlers Steffen Jorgenson. Auf dem Papier liest es sich wie ein schlechter Scherz: Verschiedene Tiere – Pferd, Schwein, Huhn und Fliege – performen gemeinsam Stings Welthit „Fragile“. Klingt schrullig? Ist es auch – allerdings ohne, dass die Message der (übrigens handwerklich perfekt und mit viel Liebe zum Detail produzierten) Arbeit jemals ins Lächerliche kippen würde. Im Gegenteil, die Tiere singen mit einer Inbrunst, die betroffen macht: „On and on the rain will say / how fragile we are, how fragile we are.“ Eine interessante Perspektive auf die Verwerfungen zwischen Mensch und Natur bot auch der Wiener Künstler Christoph Weber mit seiner Installation „Not Yet Titled“: In einer komplizierten Versuchsanordnung hatte Weber einen Kalkstein mit einem Betonklotz kollidieren lassen. Das Ergebnis konnte im Hinterhof des House of Losing Control besichtigt werden. Unnötig zu sagen, welcher der beiden Stoffe – Werk- oder Naturstoff –, sich bei diesem Härtetest als der robustere erwies. Im Kräftemessen mit der Natur, erinnert uns Weber, hat der Mensch langfristig das Nachsehen.
Es gäbe noch unzählige andere Arbeiten, die es wert wären genannt zu werden. Dieser Nachtrag kann nur einige Schlaglichter auf die Show werfen. Rekonstruieren kann er sie nicht. 80 Künstler:innen waren im House of Losing Control vertreten – 80 Versuche, eine Antwort auf die Frage zu finden, was es heißt, wenn uns die Kontrolle über unser Leben, unsere Institutionen, unsere Ökonomie und Umwelt entgleitet. Entsprechend vielstimmig – und verwirrend – ist denn auch das Bild, das von dieser Show zurückbleibt. Was war diese Ausstellung? Ein Warnzeichen? Eine Utopie? Ein Manifest fürs Los- und Fallenlassen? »People are nuts if they think they control their lifes!« Gelte es rückblickend so etwas wie einen Wahlspruch für das House of Losing Control zu formulieren, dann wäre es wahrscheinlich dieser schöne Satz aus einer Arbeit Jenny Holzers. Ein „Truism“? Gewiss. Und noch dazu ein ziemlich grimmiger; aber eben auch – eine Wahrheit. Vielleicht ist es an der Zeit, sie mehr zu beherzigen.