House of INCITING PASSION – ein Rückblick auf die Ausstellung der VIENNA ART WEEK 2023
Von Julia Hartmann und Robert Punkenhofer.
Zum wiederholten Male in der Geschichte des Festivals, fand auch heuer die Ausstellung der VIENNA ART WEEK wieder in einem verlassenen — und bald abzureißenden — Gebäude statt, diesmal im 15. Wiener Gemeindebezirk. Gemeinsam mit international renommierten sowie aufstrebenden Künstler*innen der Wiener Kunstszene wurden die Räumlichkeiten bereits Wochen im Voraus erkundet und die Kunstwerke in Beziehung zum Raum gesetzt.
Das kuratorische Konzept der Ausstellung war angelehnt an das diesjährige Motto des Festivals, INCITING PASSION, und drehte sich um verschiedenste Facetten der Leidenschaft. Diese kann eine treibende Kraft sein, die Menschen inspiriert und motiviert, ihre Ziele und Wünsche mit einem radikalen Maß an Engagement und Hingabe zu verfolgen. Dieses starke Gefühl der Begeisterung selbst zu erleben oder in jemandem anderen zu entfachen kann Vergnügen bereiten, aber auch potenziell zerstörerisch und gefährlich wirken — im Wort Leidenschaft steckt schließlich nicht umsonst auch das Wort ‚Leiden‘.
Schon Platon meinte, dass der Mensch eine rationale und eine irrationale Seele habe: Die erste sei mit Vernunft und Logik verbunden, die zweite hingegen von Begierde und Körperempfindungen angetrieben. In diesem Sinne schlug der antike griechische Philosoph vor, alle Künstler aus der pólis — sprich: von allen politischen Entscheidungen — auszuschließen, da sie zu unkontrollierbar, zu emotional und zu leidenschaftsgetrieben seien.
Künstler*innen sind zweifellos Seismograph*innen ihrer Zeit und rufen mit ihren Werken eine emotionale Reaktion bei den Betrachter*innen hervor — sei es durch überwältigende Ästhetik oder durch aufwühlende Motive, die von romantischer Leidenschaft bis hin zum Nationalismus reichen.
Diese Bandbreite griff die Ausstellung im „House of Inciting Passion“ auf. So wurden Arbeiten von rund 30 Künstler*innen aus 18 Ländern präsentiert, die sich um Lust und Begehren, Mitgefühl und Abscheu, öffentliche Erregung und private Emotionen, menschliche Berührungen und digitale Begegnungen, Rationales und Irrationales drehten. Die Ausstellung erkundete vor allem die Kraft und Komplexität von Gefühlen, auch jenseits heteronormativer sexueller Identitäten und konservativer Vorstellungen von Liebe, Sex, Romantik, Erotik, Lust und Beziehungen — wobei die potenziell zerstörerische und gefährliche Seite der Leidenschaft nicht ausgespart wurde.
Ein wichtiger Spielraum menschlicher Leidenschaften ist heute die digitale Welt, in der ein Großteil unserer Kommunikation und Beziehungen stattfindet. Das Ausstellungssujet, ein verpixeltes brennendes Herz-Emoji, trug diesem Umstand Rechnung, auch einige der ausgestellten Werke wurden im digitalen Zeitalter und Raum geschaffen.
Doch zurück zum realen Ausstellungsraum. An der Fassade des abbruchreifen Gebäudes wurden die Besucher*innen von Luiza Furtados Mural Colligated Arteries begrüßt, dessen ekstatische Tänzer*innen den Weg in das “House of Inciting Passion“ wiesen. Beim Betreten der Ausstellung erwartete die Besucher*innen zunächst Käthe Schönles emotional aufgeladenes Gemälde Fade into you, das an eine Pietà erinnerte, gegenüber von Bill Violas Videoinstallation Silent Mountain, welche lautlos die hemmungslosen Emotionen zweier Menschen zwischen Schmerz und Qual einfing. Die Vorhänge von Lars* Kollros Queer Phantasies 1-4 und The Hard Idea Of Consent wurden speziell für die Ausstellung mit Motiven verschiedener Arten von queerem Sex bestickt. Lars* schuf zusätzlich exklusiv für die Ausstellung einen Darkroom, in dem explizit alle Interaktionen erlaubt waren — solange sie einvernehmlich waren! Gegenüber prangerte Monica Bonvicinis Neonarbeit So Male, So Male patriarchale Strukturen in der Gesellschaft und in der Kunstwelt an.
Zahlreiche Künstler*innen sprachen auf intime und poetische Weise über Verletzlichkeit, Intimität und zwischenmenschliche Beziehungen. Liebesschmerz verarbeiteten beispielsweise Tracey Emin in ihren autobiografischen Gedichten Just let me love you / You must have hope / She lay there / I lay here / I can’t love anymore / Feel your touch, sowie Iwajla Klinke in ihrer Fotoarbeit Caladrius, die den Trennungsschmerz im wahrsten Sinne des Wortes einfing — der Umriss einer Lilie wurde ohne Betäubung in die Haut eines vom Partner verlassenen Freundes eingenäht. Die unfreiwillige, durch Krieg verursachte Trennung von geliebten Menschen thematisierte Mona Hatoum in ihrer Videoarbeit Measures of Distance. Ramiro Wong wiederum schuf mit seiner Dinner-Performance Celebrations: Rehearsals for a theater of hospitality Raum, um mit unbekannten Menschen in Verbindung zu treten und friedvolle Gemeinsamkeit zu erleben.
Darja Shatalova unternahm in I hope he doesn’t mind auf ironische Weise den Versuch, die emotionale Bindung zwischen zwei Menschen in eine Statistik zu gießen, und spiegelte in ihren Drucken Beziehungstabelle (C357) / Zeitgrafik (C079) menschliche Interaktion im privaten und öffentlichen Raum, sowie ihre Einschränkungen, wider.
Die Romantik durfte natürlich auch nicht fehlen: David Meran präsentierte in Referenz zu Michelangelos Die Erschaffung Adams seine und die Handabdrücke seines Partners in Ich schau, ich will nichts, als deine Hände halten. Wie kompliziert sich romantische Annäherung im digitalen Zeitalter gestalten kann, zeigte Marge Monko, die in Dear D zeitgenössische Formen der Liebesbekundung erforschte. Rudi Molacek schuf in den Gärten des Rudi ein Meer von Blumen, die über die Zeit der Ausstellung zum Teil verwelkten. Die romantischen Assoziationen, die mit Blumen verbunden sind, hinterfragte Assunta Abdel Azim Mohamed in ihrer Arbeit Boshafte Blüten. Eine ähnlich schaurig-melancholische Atmosphäre erzeugte Fatrin Krajkas Komposition Khronos, die die Besucher*innen in der desolaten Umgebung einer verwahrlosten Wohnung dazu einlud, die eigenen Sehnsüchte und Wünsche auf die Bahngleise im Hintergrund zu projizieren.
Ein spannender Aspekt bei der Ausstellungsgestaltung war die Geschichte des Gebäudes, welches zum Teil die historische Wollfabrik Fanni Lemmermayer beherbergte, wo einst Kleidung aus Alpakawolle hergestellt wurde. Es schien, als wäre der Betrieb in Eile verlassen worden: viele Geräte, Werkzeuge und Möbel wurden zurückgelassen, zusammen mit gebrauchten Kaffeetassen, Ordnern mit Firmenunterlagen, Plakaten, Garn- und Stoffresten.
Diese einmalige Umgebung wurde in einer bewussten kuratorischen Entscheidung unverändert belassen und die Kunstwerke zwischen Staub, Werkzeugen und Pin-up-Postern platziert. So galt es an manchen Stellen genauer hinzuschauen, um Kunst und Relikte des Werkstattbetriebs zu unterscheiden. Ian Burns Kritik am stumpfen Konsum der technologisierten Gesellschaft, The Trials And Tribulations Of The Tools Of Distance Relationships, verbarg sich beispielsweise inmitten einer verlassenen Bürolandschaft.
Die Leidenschaft im Spannungsfeld der sozialen Normen und heteropatriarchalen Strukturen war Gegenstand der Arbeit von Daniel Hill, dessen Körper in A series of confinement buchstäblich versuchte, aus seiner Box auszubrechen und so den Wünschen nach Zugehörigkeit zu entkommen und sich von sozialen Kategorien oder Etiketten zu lösen; Elodie Grethen widersetzte sich dem männlichen Blick mit ihren erotisch aufgeladenen Fotografien unter dem Titel Oh my darling, die sie in der Nähe der (bereits in der Werkstatt vorhandenen) Pin-up-Plakate platzierte; Anna Witt setzte mit Beat body den Arbeiterinnen des Straßenstrichs auf der Kurfürstenstraße in Berlin ein performatives Monument und der queer-feministische Arthouse-Film von Ashley Hans Scheirl 1/2 Frösche ficken flink brach schon in den 1990er Jahren mit heteronormativen Sehgewohnheiten.
Um nochmal zum Anfang zurückzukommen: Platons Idee von den leidenschaftlichen Künstler*innen, die aus der politischen Sphäre ausgeschlossen werden sollen, wurde von einigen Künstler*innen der Ausstellung in unterschiedlicher Weise aufgegriffen – einerseits inspirierte Platons Idee Sterre Arentsen zu den Fotoarbeiten The rational and irrational, welche jeweils lose das Rationale und das Irrationale versinnbildlichen und von poetischen Texten begleitet sind.
Andererseits bekommt Platons Vorschlag der Verbannung der Künstler*innen eine ganz neue und sehr aktuelle Bedeutung im Hinblick auf totalitäre Regime, wie jene im Iran, in Russland, Kuba, der Türkei oder in China. Dort werden Künstler*innen, die ihre Kritik an politischer Unterdrückung äußern, sehr oft verfolgt oder direkt aus ihrer pólis vertrieben. Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung war demnach die Verbindung zwischen emotionaler Kraft und Mitgefühl, die Menschen besonders in herausfordernden Situationen dazu bringt, gemeinsam zu handeln.
So sah man auf den Vasen A vase of fighters / A vase for freedom / A vase of resistance von Nayeun Park Szenen aus der iranischen Revolution; die Fotografien des burmesischen Künstlers Nyein Chan Su wiederum repräsentierten jene Künstler*innen, die wegen ihrer regimekritischen Haltung aus dem politischen Raum ausgeschlossen wurden.
Den Aspekt der Macht und des Missbrauchs im Namen der Leidenschaft thematisierten die Künstlerin Li Xinmo in den Arbeiten The monologues / The story of the mirror / Lu ping, oder auch Ursula Biemann in ihrem Film Writing Desire. Darin beschäftigte sich die Künstlerin mit dem in den 1990er Jahren im Internet aufkommenden Sex- und Heiratsmarkt. Marina Marković wiederum beleuchtete in ihrem Langzeitprojekt The Arrangement Unterwerfung und Dominanz in Bezug auf den weiblichen Körper — und ließ sich in einer Live-Performance während der Ausstellungseröffnung das Logo der VIENNA ART WEEK auf ihren Körper tätowieren.
Auf die Leidenschaft für die Wissenschaft, aber auch damit verbundene mögliche Manipulationen, ging Georg Eckmayr in The ability to perceive: Niemandsland ein, während Miriam Hamanns On the measure of the earth hingegen die Passion für den Wissenserwerb als zentrale Triebfeder unseres Handelns herausarbeitete. Erkenntnisse der Wissenschaft inspirierten Maaijke Middelbeek wiederum zu ihrer Multimedia-Installation Wardrobe wasteland: A tale of metamorphosis, die die unterirdischen Beziehungsgeflechte und das große Potential von Pilzen in Zeiten der Klimakrise beleuchtete.
Mit dem gemeinsamen Enthusiasmus der Künstler*innen, aller Mitwirkenden und der Besucher*innen gelang es, das zum Abriss verurteilte Ausstellungsgebäude zum Leben zu erwecken. Es konnte ein temporärer Raum geschaffen werden, um auch über die eigenen Leidenschaften zu reflektieren und sich die Frage zu stellen: “What’s your passion?“.