Gudrun Maracek: Vor allem aber ist für Nitsch das Ritual der Weg, das Sein zu erfahren.
Gudrun Maracek ist Geschäftsführerin der Nitsch Foundation.
Hermann Nitsch, der – wie die Kuratoren der Vienna Art Week ihn nennen – Zeremonienmeister des Rituals, bekennt offen, dass das Ritual sein gesamtes Werk bestimmt. Dass er nichts anderes hat, als das Ritual. Seine Aktionsmalerei, die Aktionen, die Bearbeitung der Relikte, alles ist Ritual. In seinem Orgien Mysterien Theater wird erwartet, dass die erlebten Rituale ins Leben übertragen werden, das gesamte Leben soll ritualisiert werden. Das Ritual hat die Form, die Kunst. So sollte Kunst zu Leben werden, Leben zu Kunst. Vor allem aber ist für Nitsch das Ritual der Weg, das Sein zu erfahren.
Aus dieser Sichtweise betrachtet ist Byung-Chul Han auf jeden Fall zuzustimmen, dass eine Welt ohne Rituale ärmer wäre. Im gemeinsamen Ritual entsteht der Moment in dem wir vom rein existenziellen Überleben ins intensive Sein gestoßen werden. Dieser Moment entsteht nicht in der Kommunikationsflut im digitalen Netz. Er entsteht im Ritual der Begegnung. Die vergangenen Monate haben uns gezeigt, welche Leere sich auftun kann, wenn uns dieses Ritual genommen wird.