Rund um den Nordwestbahnhof
Grätzl-Report: Nordwestbahnhof und Umgebung
Die Vienna Art Week hat dieses Jahr im 20. Bezirk in der Nordwestbahnstraße ihren temporären Ausstellungsort „House of Losing Control“ eingerichtet. Ein abbruchreifes Zinshaus mit angrenzendem Hof wird zur Experimentierfläche für eine offene und international vernetzte Kunstszene mit Fokus auf junge bildende Kunst sowie Performance und Musik. Aber auch sonst tut sich im Grätzl punkto Kunst und Kultur gerade so einiges, nachfolgend ein paar Beispiele. Durch ihre Nachbarschaft zur Leopoldstadt hat die Gegend Charakter und Charme, der Industrie-Touch des Geländes des ehemaligen Nordwestbahnhofs macht sie umso interessanter. Bevor auf dem Areal ab 2024 ein großes Stadtentwicklungsprojekt startet und ein neues Wohnquartier entsteht, wird Künstler*innen und Kulturinstitutionen hier die Möglichkeit zur Zwischennutzung gegeben, – wobei die Hoffnung besteht, dass zumindest ein paar der Projekte überdauern und sich längerfristig auch im neuen Stadtteil etablieren.
Ebenfalls in der Nordwestbahnstraße und mitten im Stadtentwicklungsgebiet Nordwestbahnhof befindet sich seit März 2021 das neue temporäre Hauptquartier von brut, das 2017 aus dem Künstlerhaus wegen dessen Generalsanierung ausziehen musste. Seit seiner Gründung 2007 ist es eine der wichtigsten Produktions- und Spielstätte der freien Performance-, Tanz und Theaterszene in Wien. In einer zwischengenutzten Industriehalle gleich neben dem Augarten gibt es reichlich Platz für Veranstaltungs- und Probeflächen sowie für Büros, Technik und Aufenthaltsbereiche für Künstler*innen und Mitarbeiter*innen samt Innenhof. Auch das WUK und die Wiener Festwochen nutzen die Proberäume temporär. Das brut erhält ab 2024 eine neue, permanente Spielstätte in der ehemaligen Zentralbankzweigstelle St. Marx im 3. Bezirk.
Museum Nordwestbahnhof im Stadtraum
Ganz in der Nähe bietet im „Stadtraum“ eine Ausstellung einen Überblick über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Bahnareals. Im selben Gebäude am Areal des ehemaligen Nordwestbahnhofs betreibt der 2012 von Michael Hieslmair und Michael Zinganel gegründete Verein Tracing Spaces das „Museum Nordwestbahnhof“. Die unabhängige interdisziplinäre Forschungsplattform konzipiert und produziert Projekte, Ausstellungen, Publikationen und Vermittlungsformate zu den Themen Stadtforschung, Mobilität, Tourismus und Migration sowie recherchebasierte Kunst- und künstlerische Forschungsprojekte. Die Intervention „Wien. Fischgeschichten“ befasst sich mit Aspekten der baulichen, sozialen und kulturellen Transformation der Stadt anhand von Wien als Ort des Fischfangs und -handels. Die aktuelle Wechselausstellung „Perceptual Grounds“ der Künstlerinnen Joanna Pianka und Veronika Suschnig setzt sich mit Geschichte und Erinnerung im städtischen Raum auseinander. Daneben gibt es auch noch eine Freiluft-Installation zu sehen. „Excavations from the darkest past“ zeigt eine Rekonstruktion der 1952 abgebrochenen Bahnhofshalle und der 1938 darin aufgebauten antisemitischen NS-Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude“ im Maßstab 1:1 als Erinnerungsmal am Boden nachgezeichnet.
Tour: Excavations from the darkest past
Ausstellung: Perceptual Grounds. Fischgeschichten
Independent Spaces
Ein paar Gassen weiter befindet sich in der Othmargasse / Ecke Kluckygasse seit 2015 die von den Künstler*innen Andrea Lüth und Gerald Roßbacher gegründete Offspace-Galerie Kluckyland. Dank großer Glasfronten kann sie rund um die Uhr besichtigt werden, neben einem kontinuierlichen und qualitativen Ausstellungsprogramm finden hier auch regelmäßig Lesungen und Performances statt. In der Jägerstraße schafft Mz*Baltazar‘s Laboratory einen „Safer Space“ für Frauen, trans und nicht-binäre Menschen, die sich bisher in traditionellen Technik- und Wissenschaftslaboren nicht zugehörig oder ausgeschlossen fühlten. Gegründet als Kollektiv von Stefanie Wuschitz, Lale Rodgarkia-Dara, Patrícia J. Reis, Barbara Huber und Taga Torosyan, versteht es sich als Umfeld für Aktivismus und provokatives Denken und organisiert Ausstellungen und Workshops an der Schnittstelle von Technologie und Kunst. Gleich daneben bereichert der von den Künstlern Axel Koschier und Stefan Reiterer ins Leben gerufene Kunstverein New Jörg mit seinem Programm die Jägerstraße. Seit 2013 konzentriert er sich auf Einzelausstellungen von österreichischen und internationalen Künstler*innen. Außerdem finden hier Vorträge, Performances und Konzerte statt. New Jörg gibt zudem eine eigene Reihe von Künstler-Editionen und Publikationen heraus. Und in der Stromstraße 8 befindet sich in einem Gemeindebau Stiege13, ein unabhängiger Raum für zeitgenössische Kunst und heißer Tipp für Ausstellungen, Performances und Konzerte.
WIFAR – Wiener Filmarchiv der Arbeiterbewegung
Das WIFAR in der Wallensteinstraße ist eine besonders spannende, alteingesessene Einrichtung. Bestehend aus ehrenamtlich tätigen Filmemacher*innen, Journalist*innen, Schriftsteller*innen und Cineast*innen, widmet sich der Verein der Restaurierung, Digitalisierung und Archivierung von Filmmaterial aus der Zeit der ersten Republik unter dem Motto „Das rote Wien“. Ein eigens entwickeltes interaktives Archivierungssystem ermöglicht einen virtuellen Streifzug durch fast 100 Jahre Arbeiterbewegung in Bild und Ton. Bei monatlichen Veranstaltungen im eigenen kleinen Kino werden bei freiem Eintritt historische Filme und Spielfilme mit Bezug zur Entwicklung der sozialdemokratischen Idee gezeigt.
Lokale & Co.
Wohin geht es nach dem Kulturprogramm? Die Gastronomie im Grätzl ist erst im Kommen, aber es gibt bereits ein paar Geheimtipps. Gerade eröffnet hat das „XIAN“ in der Rauschergasse, mit dem der Künstler Florian Schmeiser chinesisches Streetfood mit Kunst, Tee und Sake verbindet. Auch Ausstellungen und kleinere Events wie zum Beispiel Lesungen finden im Lokal statt. Am hintersten Eck des Augartens (noch im 2. Bezirk) liegt das Gasthaus „Am Nordpol 3“. Hier gibt es fantastische böhmische Hausmannskost in gemütlich-urigem Ambiente, definitiv einen Besuch wert. Und auch wenn man ein Zwei-Sterne-Restaurant hier in der Gegend wohl eher nicht erwarten würde: Das Familienrestaurant „Mraz & Sohn“ in der Wallensteinstraße hält sich schon seit Jahrzehnten und hat die wahrscheinlich spannendste Küche der Stadt.
(Angelika Seebacher)