VIENNA ART WEEK 2024

FACING TIME

Zum 20. Jubiläum nähert sich die VIENNA ART WEEK 2024 mit ihrem Motto dem Phänomen der Zeit aus verschiedenen Blickwinkeln an.

Von Robert Punkenhofer & Julia Hartmann

 

Im November 2024 feiert die VIENNA ART WEEK ihre 20. Ausgabe und nimmt sich dabei selbst einen Moment Zeit, um die Vergangenheit zu rekapitulieren, die Gegenwart zu verstehen und in die Zukunft eines Festivals der bildenden Künste zu schauen, das Wiens große Institutionen, Künstler:innen, Kulturschaffende, Theoretiker:innen, Galerien, unabhängige Kunsträume, Philosoph:innen und ein inter/nationales Publikum unter einem Dach vereint. Mit dem diesjährigen Thema „Facing Time“ reflektiert die VIENNA ART WEEK über ihre fast 20-jährige Geschichte und geht dabei den Dimensionen der Zeit auf den Grund.

 

Zeit betrifft uns alle. Der Versuch, ihr Wesen zu visualisieren, ist eine ebenso große Herausforderung wie die Erfassung ihrer flüchtigen Natur. Die frühesten Einsichten in diese Herausforderung boten die alten Griechen mit ihren Konzepten von Chronos und Kairos. Chronos verkörpert den linearen und chronologischen Aspekt der Zeit, während Kairos die opportune und qualitative Dimension darstellt und uns dazu anhält, die richtigen Momente im Leben zu erkennen und zu nutzen – oder wie die Römer sagen würden: Carpe diem. Während unser modernes Leben konventionell durch die lineare Zeit strukturiert ist, die akribisch durch die Verwendung von Uhren gemessen wird, halten unsere Vorfahr:innen und einige zeitgenössische Kulturen an einem anderen Verständnis von Zeit fest, das zyklisch und rhythmisch ist. Der Ablauf der Zeit wird hier in wiederkehrenden Zyklen gemessen, die als „circadianer Rhythmus“ bekannt sind. Dieser Rhythmus bzw. die innere biologische Uhr unseres Körpers spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung etwa des Schlafs, der Hormone und des Stoffwechsels und ist für die Erhaltung der allgemeinen Gesundheit und des Wohlbefindens von entscheidender Bedeutung. Wir alle kennen das verwirrende Gefühl, wenn unsere „innere Uhr“ durch Jetlag oder die Zeitumstellung gestört wird. Umgekehrt sind Kalender, die die Zeit als chronologisches Konzept darstellen, ein relativ junges Phänomen. Wenn diese konventionelle Art der Zeitmessung jedoch gestört wird, stehen wir quasi vor dem „Ende der Welt“, wie wir zu Beginn der 2000er-Jahre (Y2K) oder mit dem Ablaufen des Maya-Kalenders im Jahr 2012 erfahren konnten. Das Zeitverständnis wird noch komplexer, wenn wir uns intensiver mit dem persönlichen Aspekt des Alterns und der Sterblichkeit befassen, was zu Gefühlen wie Nostalgie, Eitelkeit und Chronophobie – kurz: zu einer Midlife Crisis – führen kann.

 

Aus kunsthistorischer Sicht verwenden Künstler:innen seit Jahrhunderten Symbole und allegorische Elemente, um den Lauf der Zeit darzustellen, etwa Sanduhren, Totenköpfe, verwelkte Blumen und Uhren. Das Konzept des memento mori diente darüber hinaus als eindringliche Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens und die Unvermeidlichkeit des Todes. Vor allem Gemälde der Renaissance stellten dieses Thema durch die drei Lebensalter des Menschen dar. In Salvador Dalís „The Persistence of Memory“ (1931) scheinen die Uhren geschmolzen und weich geworden zu sein – eine Interpretation des flüchtigen Wesens der Zeit oder vielleicht ein Aufruf, den gegenwärtigen Moment zu genießen. In dem zeitgenössischen Kunstwerk „within a second“ untersucht Arnold Reinthaler diese Frage anhand der kleinsten im Alltag gebräuchlichen zeitlichen Einheit, der Sekunde. Auf einer Reihe von Platten übersetzt er eine Sekunde digitaler Zeit in Stenografie und graviert sie in Marmor. Indem er die Zeit durch das harte Material des Steins visualisiert – ein performativer Akt, der länger als eine Sekunde dauert –, dekonstruiert der Künstler die konventionelle Zeitzählung, um daran zu erinnern, dass Zeit relativ ist.

Arnold Reinthaler, within a second. Seit 2007, Serie, Gravur in weißen Marmor, je 100 x 45 x 2 cm. Ausstellungsansicht ›time offset - phase signatures‹, dreizehnzwei, Wien, 2007.

Das Aufkommen der Fotografie ermöglichte es Künstler:innen, die Zeit, bzw. Chronos, auf Papier zu verewigen. Eadweard Muybridges serielle Fotografien stehen als wichtiges Artefakt für die frühen
Versuche, flüchtige Momente festzuhalten, die sich schließlich zum Bewegtbild entwickelten. In den letzten Jahrzehnten haben sich daraus zeitbasierte Kunstformen wie Video, Performance, Film,

Installationen und Klangkunst entwickelt, die zu beliebten Mitteln geworden sind, um Dauer und Ausdauer auszudrücken. Andy Warhols Echtzeitfilm „Empire“ (1965), eine achtstündige Einzelaufnahme des Empire State Building, oder Christian Marclays Videoarbeit „The Clock“ (2010) dienen als ikonische Beispiele. Letztere ist 24 Stunden lang und eine Montage aus Tausenden von Film- und Fernsehbildern von Uhren, die so zusammengeschnitten wurden, dass sie die aktuelle Zeit anzeigen. In ähnlicher Weise hat der taiwanesische Künstler Tehching Hsieh in „Time Clock Piece“ versucht, den Lauf der Zeit zu verewigen, indem er vom 11. April 1980 bis zum 11. April 1981 Tag und Nacht monoton eine Stechuhr schlug. Bekleidet mit einer Arbeiteruniform thematisierte Hsieh seinen Status als illegaler Einwanderer in New York City und verglich die in seinem Atelier verbrachte Zeit kritisch mit der Monotonie der Schichtarbeit. In „OPALKA 1965/1 – ∞“ brachte der Maler Roman Opałka die Visualisierung der Zeit auf eine ganz neue Ebene, indem er versuchte, bis ins Unendliche zu zählen: Ab 1965 zeichnete er bis zu seinem Tod im Jahr 2011 jeden Tag Zahlen auf die Leinwand, um das unaufhörliche Vergehen der Zeit zu manifestieren, während er sich stets mit der Sterblichkeit (und der notwendigen Unmöglichkeit seines Unterfangens) auseinandersetzte. In ähnlicher Weise dokumentierte On Kawara die Zeit, indem er ab dem 4. Januar 1966 das Datum des jeweils aktuellen Tages auf eine Leinwand zeichnete und Zeitungsausschnitte dieses Tages hinzufügte. Auf diese Weise schuf er Tausende von „Date Paintings“, die erst mit seinem Tod im Jahr 2014 endeten. Anna Jermolaewas Wandinstallation „Clockwork“ (2021) hingegen visualisiert die Zeit anhand von Bahnhofsuhren aus Österreich, der ehemaligen DDR, der Tschechischen Republik und der Sowjetunion, die stehen blieben, als sie von ihrer „Mutteruhr“ getrennt wurden. Sie zeigen einen Zeitpunkt in der Geschichte an, der für das Scheitern der politischen Systeme steht, aus denen sie stammen.

Christian Marclay, The Clock, 2010. Installation view. Courtesy of the artist.
Ausstellungsansicht „Tehching Hsieh. One Year Performance 1980-1981 (Time Clock Piece)“ | © der Künstler / Foto: Florian Lampersberger | Near Future
Roman Opałka, 1965/1 - ∞, Detail 511130-512739 © Roman Opałka © FairUse
Anna Jermolaewa, Clockwork (2021). Ausstellungsansicht: Georg Herold - Anna Jermolaewa - Heimo Zobernig, Galerie Johann Widauer, Innsbruck, Austria, 2022

 

Während die oben genannten Künstler:innen ihre Werke in Bezug auf lineare Zeit und Dauer konzipierten, haben sich andere wie John Cage, Yayoi Kusama und Katie Paterson an abstrakteren Konzepten wie Unendlichkeit und Zufall orientiert – oder an dem, was die alten Griechen als Kairos bezeichneten. Fasziniert von der Idee der Unendlichkeit, schafft Kusama „Infinity Mirrored Rooms“, die sich dem gängigen Konzept von Zeit und Raum entziehen und die Illusion von Unendlichkeit erzeugen. Katie Paterson experimentiert mit dem Raum-Zeit-Kontinuum auf eine etwas andere Art, indem sie eine Sanduhr mit Sternenstaub füllt – den versteinerten Überresten einer Zeit vor der Entstehung unseres Planeten –, der Millionen Jahre zur Erde gereist ist. Cage hingegen näherte sich dem Konzept der Zeit durch seine Kunst, indem er die Dauer seiner Musikstücke von Ungewissheit und Zufall bestimmen ließ.

Yayoi Kusama, Infinity Mirrored Room – Filled with the Brilliance of Life, 2011/2017 (Tate © Yayoi Kusama)
Katie Paterson, THE MOMENT, 2022. Hand-blown glass with pre-solar material to measure 15 minutes. Series of 10 with 5 APs. This is #7. 31 x 7.5 x 7.5 cm. Courtesy Ingleby Gallery.

 

Heutzutage wird Zeit vor allem als Ware, als wertvolle Ressource betrachtet. Wer hat nicht schon einmal die Redewendung „Zeit ist Geld“ verwendet? Einerseits unterstreicht dies die Idee, dass Zeit ausgegeben, gespart, investiert oder verschwendet werden kann, und betont ihre Knappheit und damit ihren Luxus; andererseits ist es zunehmend ein sozioökonomisches und feministisches Thema am Arbeitsplatz: Eine aktuelle Statistik zeigt, dass in Österreich fast 80 Prozent der Teilzeitjobs von Frauen ausgeübt werden, meist aufgrund von Betreuungspflichten. Dies führt oft zu einer Doppelbelastung der Frauen, die für ein viel größeres Arbeitspensum weniger Geld verdienen. Bereits 1972 griff Faith Wilding dieses Thema in einem 15-minütigen Monolog auf. Die Künstlerin verdichtete das gesamte Leben einer Frau zu einem monotonen, sich wiederholenden Kreislauf des Wartens darauf, dass das Leben beginnt, während sie das Leben anderer aufrechterhält. In einer Passage liest Wilding: „Warten auf etwas Zeit für mich selbst. Ich warte darauf, wieder schön zu sein. Warten darauf, dass mein Kind zur Schule geht. Warten darauf, dass das Leben wieder beginnt. Warten …“

Faith Wilding, Waiting (1972). Video still. Quelle: https://vimeo.com/36646228

In gewisser Weise sind das Warten, die Freizeit und eine „Work-Life-Balance“ in unserer heutigen Gesellschaft zu einem Luxus geworden. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa verwendet den Begriff der „sozialen Beschleunigung“, der sich auf die wahrgenommene Zunahme des Lebenstempos bezieht, die unsere Zeitwahrnehmung beeinflusst. Er geht davon aus, dass wir im Zuge der Beschleunigung unseres modernen Lebens ein Gefühl von Zeitdruck verspüren und eine Dissonanz zwischen der Geschwindigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und unserer Anpassungsfähigkeit erleben. Hier führt Rosa das Konzept der „Resonanz“ als möglicher Gegenkraft zu den entfremdenden Auswirkungen der Beschleunigung ein. Er bezieht sich dabei auf Erfahrungen, die tief, sinnvoll und erfüllend sind. Die Suche nach Resonanz wird so zum entscheidenden Mittel, um die negativen Auswirkungen einer schnelllebigen Gesellschaft auszugleichen. „Zeitarmut“ und „Zeitknappheit“ sind auch Themen, mit denen sich Teresa Bücker in ihrem Buch Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit beschäftigt. Bücker fordert politische und gesellschaftliche Veränderungen, die das Recht auf Freizeit sichern, “denn freie Zeit ist ein Menschenrecht”.

 

Schließlich will die diesjährige VIENNA ART WEEK der Zeit die Stirn bieten und ihre Besucher:innen ermutigen, sich Zeit zu nehmen, um die Kunst und den gegenwärtigen Moment zu genießen. Nicht zuletzt, weil die ununterbrochene Fortführung eines Non-Profit-Festivals zum 20. Mal gefeiert werden muss!