Ein Fest für Freudianer – DAS UNHEIMLICHE im Sigmund Freud Museum
Eine Sonderausstellung in Freuds ehemaliger Wohnung stellt den Bezug zwischen Freuds zentralen Thesen und den Werken von 13 zeitgenössischen Künstler:innen her. Ein Text von Sabine B. Vogel.
Das Essen steht auf dem Tisch. Die Tochter sitzt gelangweilt vor ihrem unberührten Teller, Vater und Sohn starren ins Leere. Es könnte eine ganz alltägliche Familienszene sein, die der US-amerikanische Fotograf Gregory Crewdson hier inszeniert hat – wäre da nicht vorne der eine Extra-Teller. Und die Gestalt der teilnahmslos blickenden, splitternackten Frau, die den Raum unbemerkt betreten hat. Sie hält eine Echse in der Hand, unter ihren schmutzigen Füßen breiten sich Blumen und Erdreich aus. Ist sie die Abwesende, für die eingedeckt ist? Die Mutter? Eine Erinnerung? Crewdsons Vater war Psychoanalytiker. Die mitgelauschten Patientengespräche beeinflussen seine Tableau-Fotografien bis heute, sein Thema ist das Befremdliche im Alltäglichen, das Unausgesprochene – das Unheimliche.
Damit trifft sein Werk perfekt den Kern der aktuellen Sonderausstellung im Sigmund Freud-Museum. Hier in den Räumen der Berggasse 19 lebte der berühmte Psychoanalytiker bis 1938. Seit 1971 dienen die ehemalige Familienwohnung und Ordination als Dokumentationszentrum seines Lebens und Werks, als Bibliothek und Forschungszentrum. Drei frühere Wohnräume wurden zusammengelegt für Wechselausstellungen. Hier hängen Crewdsons Fotografie, Birgit Jürgenssens „Freud´s Couch“, Helmut Newtons Portraitfotografie von Pierre & Denise Klosoowski. Im Raum stehen Markus Schinwalds „Misfits“: drei Marionetten-ähnliche, kindhafte Figuren, die ab und an geisterhaft eine Hand heben. Der mechanische Sound erfüllt den Raum.
Allen Werken der insgesamt 13 Künstler:innen gemeinsam ist die Stimmung des Unheimlichen – eine zentrale Kategorie Freuds, mit der er seine Annahme einer unbewussten Tätigkeit der Psyche begründete. Und übrigens ein grandioses, kaum übersetzbares Wort: Von dem Wort ‚Heim‘ als Inbegriff des Vertrauten, der Dazugehörigkeit, beginnt die Verwandlung mit dem Suffix ‚lich‘: ‚heim-lich‘ als Zustand des Verborgenen. Erweitert um das Präfix ‚un‘ kippt die Bedeutung gänzlich ins Bedrohlich-Unvertraute: un-heim-lich. Ein Zustand, der Künstler:innen schon immer inspirierte – ob mit oder ohne Anlehnung an Freud.
Hier in Freuds ehemaliger Wohnung sind die Werke ein Fest für jeden Freudianer. In der dicht gedrängten Präsentation – der zuvor eine umfassenderer Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen vorausging – kann jedem Werk ein Schlagwort, eine These von Freud zugeordnet werden: patriarchale Gewalt bei Francesca Woodman, traumatisches Erleben bei Louise Bourgeois, animistisch Beseeltes bei Schinwald oder der ‚verhüllte Charakter‘ des Unheimlichen bei Stephanie Pflaums Installation „Haut“. Die ist übrigens im Schauraum an der Straße jederzeit zu sehen: Hinter dem schönen Schein der glitzernden Perlen kann man Organe und Embryone erkennen. Unheimlich!
DAS UNHEIMLICHE. Sigmund Freud und die Kunst, Sonderausstellung im Sigmund Freud Museum, 6.4.-4.11.2024