Die stillen Helferlein
Sie schleppen eimerweise Gedärme und lassen sich Blut über den Körper schütten: Zahlreiche Akteurinnen und Akteure machen Hermann Nitsch‘ Aktionen zu weltberühmten Spektakeln. Wie fühlt es sich an, Teil einer solchen Aktion zu sein? Und wieso möchte man es immer wieder tun? VIENNA ART WEEK sprach mit zwei langdienenden Mitwirkenden über die Lust am Blut und die transformierende Kraft des Exzesses.
„Um sieben in der Früh wurde der Stier geschlachtet und der Körper aufgehängt. Ich trug eine Augenbinde und war hoch über dem Publikum am Kreuz festgebunden“, erinnert sich Leo Schuster an seinen ersten Auftritt bei dem legendärem 6-Tage-Spiel auf Hermann Nitsch‘ Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf, „Im Rücken spürte ich die Wärme, die der frischgeschlachtete Kadaver ausstrahlte und auf der Brust die kühle Morgenluft. Das war echt archaisch!“
Schuster ist einer der zahlreichen Freiwilligen, die regelmäßig in den rituellen Zeremonien des österreichischen Aktionskünstlers Hermann Nitsch mitwirken. Die Aktionen des mittlerweile 80-Jährigen spalten die Geister: Während seine Anhänger ihren puren, archaischen Charakter feiern, demonstrieren Kirche und Tierschützer regelmäßig gegen die blutgetränkten Opferspektakel.
Zahlreiche freiwillige Teilnehmer kommen aus aller Welt, um extreme Erfahrungen zu machen. Dabei werden an ihre körperlichen und emotionalen Grenzen getrieben: Dem Gestank von Verwesung, Schweiß und Urin ausgesetzt und zu dröhnenden Choralklängen wühlen sie in Tiereingeweiden, lassen sich Blut in Mund und über den Körper rinnen und hängen stundenlang am Kreuz. Jeder Aktion gehen wochenlange intensive Proben voraus, bis die Handlungen in Fleisch und Blut übergegangen sind.
„Dieses Ausgeliefertsein ist eine absolute Seinserfahrung, fast schon therapeutisch“, meint Katrin Sturm, die seit 2008 regelmäßig als Akteurin mitwirkt, „Du bist ganz bei dir und nimmst die Gerüche und Musik intensiv wahr. Nach der Geburt meines Kindes war die Aktion das intensivste Erlebnis, das ich je hatte“. Die große Tierliebhaberin war ursprünglich befremdet von den blutrünstigen Spektakeln, wollte sich aber selbst ein Bild machen, bevor sie den Künstler vorschnell verurteilte. Als sie zum ersten Mal eine Aktion besuchte, überfiel sie das unbändige Verlangen, selbst mitzumachen: „Ich musste sofort gehen – weil ich es nicht ausgehalten hätte, zuzusehen, ohne mittendrin zu sein“. Bald darauf nahm sie an ihrem ersten 2-Tages-Spiel teil. „Für mich als Stadtkind war die Aktion magisch – das Blut, der Geruch, die Musik, das Berühren – da ist alles dabei: das Leben, das Essen, das Sterben – die Akzeptanz des Menschseins“, so Sturm. Durch die enge Zusammenarbeit oftmals hunderter Akteure und Akteurinnen bildet sich ein intensives Gemeinschaftsgefühl, Emotionen brechen heraus, der Exzess wird abends rund ums Lagerfeuer mit Nitsch selbsthergestellten Wein gefeiert.
Wer jedoch glaubt, dass sich die Akteurinnen und Akteure tagelang im Rausch verlieren, irrt gewaltig. „Nitsch ist ein Kontrollfreak. Er hat genaue ästhetische Vorstellungen der Abläufe.“, berichtet Schuster. Diese reichen von genauen Anleitung der Fesselknoten über die Art, wie das Blut über den Körper rinnen soll, bis zu den minutiös getakteten, hochkonzentrierten Wühlen in den Gedärmen: „In Situationen, wo du unter einem 150 Kilogramm schweren Schwein liegst, in dessen Kadavern die Leute über dir herumwühlen, muss man sich zu hundert Prozent auf die anderen verlassen können“, so Schuster, der auch im Regieteam tätig war, „Wenn einer aus purer Lust am Spritzen mit Blut daherkommt, ist der sofort wieder weg.“
Die Mitwirkenden verbindet eine große Bewunderung für Nitsch‘ Person und seine Kunst: „Auch wenn man die Abläufe kennt, steht man da im Publikum und denkt sich nur, woah wie das runterrinnt und pritschelt und glänzt!“ sagt Leo Schuster, „Das hat nichts mit unserer höchstzivilisierten Welt zu tun. Nitsch‘ Aktionen beziehen sich auf Menschheitsgeschichten, die sich seit Jahrtausenden in unseren Gehirnen eingebrannt haben und sind deswegen so zeitlos. In 300 Jahren werden sie genauso mächtig sein wie heute.“
Dem Hochgefühl der Aktionen folgt eine gewisse Leere. Es wirke absurd, einen Ort, an dem gerade noch knietief in Gedärmen gewühlt wurde, lupenrein und nichtssagend daliegen zu sehen. Beide Akteure zieht es daher immer wieder zu den Aktionen, zum Gemeinschaftsgefühl und dem magischen Moment, in dem man „einfach nur ist“. „Man kann es schwer beschreiben“, sagt Katrin Sturm. „Ich kann nur jedem raten: Hinkommen, mitmachen.“
Die nächste große Aktion ist ein 6-Tage-Spiel, das für 2021 geplant ist.
Text: Salomea Krobath