VIENNA ART WEEK 2020

Das Ritual in der Performance zwischen Spiel und Seinsgewissheit. Bertlmann, Samsonow und der Morgenkaffee 1

Teil 1: Zeit des Rituals, Zeit der Kunst

Dauer der Ausstellung
14.11.202014.11.2020
Extra info

Der Philosoph, Kunstkritiker und Kurator Klaus Speidel beleuchtet das Ritual vor dem Hintergrund der Performancekunst. Er sprach dafür mit den Künstlerinnen Elisabeth von Samsonow und Renate Bertlmann.

LIVING RITUALS Online-Talk mit Elisabeth von Samsonow: 14 NOV 2020, 17:30-18:15

Elisabeth von Samsonow, Das Zellteilungsserviertischchen = Natur, 2020 Foto: Astrid Bartl

„Man muß es erst problematisch und nur wie zum Scherz behandeln; der Ernst wird sich schon finden“ (J. W. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Sechstes Kapitel)

Die rituelle Zeit ist aus dem Kontinuum der gewöhnlichen Existenz herausgenommen. Der Übergangsritus kann eine neue Etappe einleiten, weil er weder Teil der Zeit davor noch der Zeit danach ist. Anstatt der Uhr, die den Alltag bestimmt, geben hier die rituellen Handlungen den Takt vor. Welchen besonderen Wert könnte aber die Zeit des Rituals haben und wie verhält sie sich zur Zeit der Performance? Auch künstlerische Aktionen haben ihre Eigenzeit: „Jede Performance reklamiert eine intensive Zeit. Die hat heute einen besonderen Wert“, so die Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow. Und der Philosoph Hans-Georg Gadamer stellt ganz explizit eine Beziehung zwischen der Zeit der rituellen Feier und Kunst her. In Die Aktualität des Schönen erklärt er, große Kunst halte wie ein Fest die Zeit an oder bringe sie zum Verweilen. So können wir, meint Gadamer, am Kunstwerk mit seiner Eigenzeit eine spezifische Art des Verweilens lernen, die im Alltag verloren geht. Gerade jetzt scheint das wesentlich. Denn auch in der Zeit virusbedingter Entschleunigung und selbst im Lockdown kommen wir kaum zur Ruhe: Selbst wenn wir uns nicht mit Filmen oder Computerspiele unter ständiger Spannung halten, greifen soziale Netzwerke systematisch unsere Aufmerksamkeit an, um sie aus dem hier und jetzt zu extrahieren. Vielleicht könnte hier tatsächlich die Kunst eine besondere Rolle spielen, indem sie uns das Verweilen lehrt. Weil man sich Bilder, Skulpturen, Fotografien oder Filme immer auch später noch ansehen kann, bietet gerade die Performance sich als „Einstiegsdroge“ an, denn mit ihrem Ereignischarakter fordert sie sofortige und volle Aufmerksamkeit ein, ganz gleich, wie viele neue Meldungen gerade auf unseren Smartphones blinken. Anders als die meisten Theateraufführungen ist Performance selten wiederholbar. Darin besteht ein Unterschied zum Ritus, denn „die Wiederaufführung ist ein wesentlicher Bestandteil des Rituals“, wie von Samsonow unterstreicht. Der Ablauf eines Rituals ist den Beteiligten bekannt. Die Reaktion der Protagonistinnen und Protagonisten ist es allerdings nicht, sodass viele Rituale mit Spannung erwartet werden.

Performance, Ritual, Alltag

Weil die Performerinnen und Performer uns in den wenigsten Fällen mit dem Skript der Performance ausstatten, gilt hier das Diktum des (Video-) Performers Francis Alÿs: „Typische Zuschauerinnen und Zuschauer warten darauf, dass der Unfall geschieht“. Alÿs eigene, zum Teil selbstgefährdende Performances, die Aktionen von Chris Burden, der sich in den Arm schießen ließ, oder Marina Abramovićs und Ulays The Other: Rest Energy (1980), wo Ulay vier Minuten lang einen Pfeil spannte, der auf Abramovićs Herz zielte, folgen alle dem Schema des Internet Memes Accidents waiting to happen. Sie fordern das Schicksal heraus. Das wiederum scheint auch in einigen Initiationsriten der Fall zu sein, zum Beispiel die früher übliche Löwenjagd junger Massai Männer allein mit Speer und Schild bewaffnet oder das rituelle Auspeitschen unter den nordafrikanischen Fulai. In einigen prominenten Fällen geschah auch in der Performance ein mehr oder minder kontrollierter Unfall: Das unangekündigte Auftauchen Ulays bei Abramovićs Performance The Artist is Present 2010 im MoMA ließ die Künstlerin in Tränen ausbrechen; Oleg Kulik biss 1996 einen Ausstellungsbesucher in die Hand, als er bei seiner Performance das Gefahrenzeichen ignorierte und ihm zu nahe kam. Die Unvorhersehbarkeit spielt in der Performance oft eine wichtige Rolle. Selbst wenn Künstlerinnen und Künstler selbst wissen, was sie vorhaben, ist das Publikum oft nicht vorhersehbar und so wurde Günter Brus Wiener Spaziergang 1965 bekanntlich von einem Polizisten beendet und mit einer Ordnungsstrafe belegt.

Alltagsrituale geben uns dagegen gerade dadurch Halt, dass wir wissen, wie sie ablaufen und sie regelmäßig geschehen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wehren sich allerdings dagegen, dass wir den allmorgendlichen Kaffee oder das Zähneputzen als „Rituale“ bezeichnen, denn solche Gewohnheiten erfüllen wesentliche Kriterien des Rituellen nicht.

Es mögen zwar Handlungen sein, die einen bestimmten wiederkehrenden Ablauf haben, aber der Symbolismus, der ein wichtiges Kriterium für Rituale ist, fehlt ihnen weitgehend. Anders als der Messwein hat der morgendliche Kaffee keinen Referenzpunkt. Er imitiert auch kein wichtiges religiöses oder mythologisches Ereignis, sondern wird um seiner selbst willen getrunken. Einen Bezug zum Heiligen, zu einer spirituellen Wirklichkeit oder zu einem Glaubenssystem, das in der Sprache des Mythos weitergegeben wird, hat zwar das Weihwasser vor dem Schlafengehen, nicht aber die abendliche Gesichtswäsche. Solche Alltagsgewohnheiten haben so wenig mit traditionellen Riten gemein, dass der Ritualbegriff hier höchstens metaphorisch verwendet werden kann.
Anders steht es um das Kreuzzeichen, das manche Christen im Angesicht einer Kirche schlagen oder dem Durchgehen unter dem Koran und dem Verschütten von Wasser, das einige traditionelle Muslime vor Reisen praktizieren. Diesen zwar nicht weniger alltäglichen Handlungen ist gemeinsam, dass sie einer direkten praktischen Funktion entbehren oder diese höchstens mittelbar – und zuverlässig nur in den Augen der Gläubigen – haben. Allerdings können auch Alltagsgewohnheiten ritualisiert werden, zum Beispiel wenn zu den praktisch notwendigen Handlungen weitere hinzukommen, beim Kaffee zum Beispiel Mindfulnessübungen, die den pragmatischen Nutzen transzendieren.

(Klaus Speidel)