VIENNA ART WEEK 2022

Challenging Orders

Das Motto der VIENNA ART WEEK 2022 lädt ein, bestehende Normen und Ordnungen zu hinterfragen.

Von Julia Hartmann & Robert Punkenhofer

Im Laufe der Kunstgeschichte wurden etablierte Stile regelmäßig durch neue Formen ersetzt. Sobald ein vorherrschender „Ismus“ als eingerostet und statisch galt, wurden dominante Ideenkonstrukte und Praktiken aufgebrochen. Künstler:innen machten mit Begeisterung neue Kunstgattungen möglich, indem sie nicht-traditionelle Materialien wie Industrie- oder Alltagsgegenstände, Licht, Körperflüssigkeiten oder Erde verwendeten und zuvor als ungeeignet erachtete Elemente wie den Körper, kinetische Effekte, den Zufall, die Co-Autor:innenschaft oder überhaupt kein Material einsetzten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Duchamps Verwandlung eines einfachen Urinals in ein Kunstwerk, das die konventionellen Betrachtungsgewohnheiten erschütterte. Dieser paradigmatische Wechsel in der Kunstproduktion und -wahrnehmung führte zu einem Konzeptualismus, der die üblichen Methoden und Systeme zur Herstellung eines ästhetisch ansprechenden und wirtschaftlich tragfähigen Kunstwerks aufgab. Andres Serrano schockierte beispielsweise mit der Verwendung von Urin für seinen berühmt-berüchtigten „Piss-Christ“; Ulrike Truger stellte eine fünf Tonnen schwere Skulptur ohne behördliche Genehmigung vor der Wiener Staatsoper auf, um an den Tod von Marcus Omofuma zu erinnern; Adrian Piper hinterfragte in ihrer Serie „Ur-Mutter“ das uralte religiöse Symbol der Mutter und des Kindes als weiße Personen. In diesem Sinne hat die Kunstwelt eine Vielzahl an Avantgarde-Bewegungen erlebt, denen eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts und der Innovation gemeinsam ist und die darauf abzielen, bestehende Verhältnisse kritisch zu beleuchten, Gesetze zu missachten, sich über religiöse Symbole hinwegzusetzen oder den akademischen Kanon zu diversifizieren – und damit nicht nur die traditionellen Definitionen von Kunst zu erweitern, sondern darüber hinaus die Zentren des Geschmacks und der Blickproduktion in Frage zu stellen.

Hinsichtlich der Rolle der Museen als Kunsthäuser und Ausstellungsräume, aber auch als Orte für demokratische Ideale, moralische Standards und diverse Standpunkte haben Künstler:innen diese Institutionen im Laufe der Kunstgeschichte in die Pflicht genommen oder sich von der jeweils vorherrschenden Denkschule abgekappt. In Wien lösten sich um 1900 die Secessionisten vom etablierten Kunstbetrieb, um ihren eigenen Regeln für die Herstellung und Ausstellung von Kunst zu folgen. Etwa zur gleichen Zeit gründeten Künstlerinnen die Vereinigung Bildender Künstlerinnen Österreich (VBKÖ), um Kunst unabhängig zu produzieren und auszustellen. Heutzutage versuchen gemeinschaftsbasierte Projekte, kreativer Aktivismus und sozial engagierte Kunst, die Konventionen, Produktionsstätten und ästhetischen Funktionen der Kunstwelt zu verändern und darüber hinaus an den vorherrschenden sozio-politischen Strukturen zu rütteln. Mit Aktionen wie Sit-ins, Boykotten, Hausbesetzungen, Streiks usw. haben Künstler:innen, Kulturschaffende und schließlich auch Direktor:innen korrupte Systeme und elitäre Wertesysteme wirkungsvoll entlarvt. So hat etwa das Garage Museum of Contemporary Art in Moskau seine Arbeit aus Protest gegen Putins Krieg in der Ukraine niedergelegt; Nan Goldin hat die Tate, das Guggenheim und das Met dazu gebracht, die Finanzierung durch die Familie Sackler künftig abzulehnen, um sich gegen die Profite von Big Pharma zu positionieren; und Gruppen wie Forensic Architecture bringen die Finanzierung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete durch Vorstandsmitglieder großer Kunstmuseen ans Licht.

Aus einer generellen Perspektive haben sich gegenkulturelle Gruppierungen wie Hippies, Punk und die Techno-Szene und in jüngerer Zeit soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo, Fridays for Future oder Occupy Wall Street der herrschenden Ordnung friedlich widersetzt, während empörte (rechts-)libertäre Gruppen die Demokratie zu stören versuchen, angetrieben von idealisierten Überzeugungen einer vergangenen Weltordnung—von Naomi Klein als „toxische Nostalgie“ bezeichnet. Hacking und Whistleblowing sind schließlich Formen des digitalen zivilen Ungehorsams, auch wenn die Linie zwischen Chaos und Ordnung verschwimmt. Staatliche Souveränität, geopolitische Grenzen, internationale Rechtsstaatlichkeit, dominante Narrative, Ismen gegenüber Protest ziviler Ungehorsam, Revolution und Anarchie … Was treibt Menschen dazu an, Systeme zu stören, die auf patriarchalen, heteronormativen oder ästhetischen Regeln beruhen? Wer profitiert von der “rage against the machine” oder der Unterwanderung des Mainstreams? Brauchen wir im 21. Jahrhundert noch traditionelle Familien- und Geschlechterkonstrukte und aus welchem Grund klammern sich manche nostalgisch daran? Und schließlich: Welche Rolle spielen die Kunst, Künstler:innen und ihre Institutionen in diesen Prozessen? Wer sind die Entscheidungs-, Geschmacks- und Blickmacher:innen in der Kunstwelt und auf welche Weise arbeiten Künstler:innen auf eine Diversifizierung ihrer Normen und Werte hin? Das innovative Potenzial der Kunst im Kampf gegen herrschende Strukturen durch den Einsatz kreativer Strategien ist ebenso Thema der diesjährigen VIENNA ART WEEK wie die generelle Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Bewegungen, die lange gültige Ordnungsprinzipien in Frage stellen. Mit dem Thema „Challenging Orders“ wollen wir den Aufbruch vom politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, ästhetischen und persönlichen Status Quo aus unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchten.