Alles so lebendig – documenta fifteen 2022
Ein Besuch auf der Weltkunstschau in Kassel. Von Sabine B. Vogel.
Alle fünf Jahre muss die documenta ihre Relevanz behaupten. Denn das Publikum erwartet, in Kassel heute schon die Kunst von morgen zu sehen. Seit einigen Jahrzehnten wird das weniger mit innovativen Bildsprachen als mit kommenden Diskursen eingelöst, wenn Okwui Enwezor 2002 Postkolonialismus thematisierte und dafür die documenta 11 mit vier vorab-Diskussions-Plattformen weltweit startete. Carolyn Christov-Bakargiev provozierte 2012 mit ihrer Idee eines Wahlrechts für Erdbeeren und betonte auf ihrer documenta 13 eine posthumane Weltsicht, und Adam Szymczyk lud zur documenta 14 2017 erstmals indigene Künstler:innen ein.
Die von Enwezor begonnene, von Szymczyk mit der Athen-Dependance fortgeführte Expansion der documenta Richtung Süden ist jetzt mit der documenta fifteen radikalisiert: Es dominiert der Globale Süden. Im geopolitischen Westen bekannte Künstler:innen wollte das indonesische Kuratorenkollektiv ruangrupa explizit nicht dabei haben. Als vages Konzept führen sie das in Indonesien allseits bekannte Modell ´lumbung´ ein, dass die Idee einer gemeinschaftlich geregelten Verteilung, ursprünglich von Reis, bedeutet.
Statt herausragender Einzelstimmen dreht sich auf der documenta fifteen alles um Gemeinschaft. Konsequenterweise folgt ruangrupa auch keinem „klassisch autoritären Ansatz“, wie Ade Darmawan es am 6.7.2022 im Ausschuss für Kultur und Medien, Deutscher Bundestag nennt, sondern sie „ziehen es vor, zusammenzuarbeiten“: Sie luden weitere 14 Kollektive ein, die wiederum 64 Kollektive dazu holten. So kommen rund 1500 Teilnehmer:innen zusammen, die meisten in irgendeiner Gruppenstruktur organisiert, oft Kulturräume aus kunstinfrastrukturschwachen Regionen. Die wenigsten Künstler:innen.
Wer keine Meisterwerke von Berühmtheiten erwartet, wird auf der documenta trotzdem bemerkenswerte Beiträge finden, die Skulpturen von Shabu Mwangi in der documenta Halle (eingeladen vom Wajukuu Art Project) oder die Beiträge der rund 30, von der Ghetto Biennale aus Haiti Eingeladenen in der St. Kunigundis Kirche. Beeindruckend auch die Roma-Werkschau der Off Biennale, die das ungarische Kollektiv vom Fridericianum bis zum Bootsverleih Ahoi als „ROMA-MOMA“ mit Malerei und Installationen eingerichtet hat. Grandios die Adaption des Aschenputtel-Märchens, die Saodat Ismailova in ihrer Heimat Usbekistan filmte.
Aber gibt es neben diesen Werken klassischer Solo-Künstler:innen auch erwähnenswerte Beiträge von Kollektiven? Durchaus: Eine soghafte Faszination geht von der Filmprojektion der Rojava-Film-Kommune über eine fast vergessene Sprache und Lieder syrischer Kurden im Fridericianum aus. Mittlerweile weltberühmt wegen der Antisemitismus-Vorwürfe sind die Agit Prop-Wimmelbilder von Taring Padi, ein documenta-Verkaufshit die schwarz-weißen Keramik-Fruchtobjekte von Britto Arts Trust (Bangladesh), mit denen sie „unterstreichen, wie Lebensmittel von ihrem natürlichen Ursprung getrennt sind und nur durch chemische Veränderungen überleben können“ (Katalog).
Fast parodiehaft exaltiert inszenieren sich die Mitglieder des indigenen Queer-Kollektivs FAFSWAG, deren Fotografien allerdings nicht ganz unseren Ansprüchen an die Komplexität eines Kunstwerks entsprechen – aber um unsere Kriterien geht es auf dieser documenta dezidiert nicht. Es wird ein anderer Kunstbegriff präsentiert, in dem sich Kunst & Kulturarbeit, Hoch- und Populärkultur und dazu allerhand Subkulturen vermischen.
Während die Presse darauf weitgehend kritisch reagierte, feiern die meisten Kurator:innen die documenta fifteen als grandiosen Erfolg. Ihr Argument: Alles sei so lebendig. Die für die Kuratoren verantwortliche Findungskommission aus Künstler:innen und Kurator:innen freut sich in einem öffentlichen Statement darüber, wie „generös, zum Nachdenken anregend, lebendig und einladend“ die Präsentationen seien. Solche Beschreibungen referieren weder auf Diskurse noch sind es inhaltliche Setzungen, sondern lapidar Beobachtungen. Vor allem aber: Ausdruck einer tiefen Krise westlicher Institutionen.
Hier könnte möglicherweise auch die Aktualität der documenta fifteen – über den Kollektiv-Hype hinaus – ansetzen: Zielt das Schneeballsystem von ruangrupas Einladungspolitik und ihre unbekümmerte Ignoranz gegenüber kuratorischen Konzepten und Qualitätsfragen vielleicht auf eine Abschaffung oder zumindest gewaltige Entmachtung von Kurator:innen? Werden Ausstellung bald ohne schwergewichtige Konzepte auskommen und stattdessen weltpolitische Anliegen, auch gerne ohne Kunstanspruch, versammeln? Werden in unseren Kunsthallen und Museen Fragen nach künstlerischer Qualität ad acta gelegt im Bestreben, die ganze Welt zu inkludieren? Werden Kunstpräsentationen bald von aktivistischen Formaten mit erhöhter Gruppendynamik abgelöst? Das würde für die nächsten fünf Jahre ein außergewöhnliches Ausstellungsprogramm versprechen, „ohne Hierarchie oder Universalismus“, wie es die Findungskommission zur documenta formuliert – bis die nächste documenta die Kunstwelt wieder neu erfinden muss.